Wilhelm Neurohr

Erstmals in der Geschichte der Menschheit lebt seit dem Jahreswechsel über die Hälfte der Weltbevölkerung - 3,4 Milliarden Menschen - in Städten als bevorzugte Lebensweise. Zugleich wird ein Anstieg der Weltbevölkerung von heute 6,7 Milliarden auf 9,2 Milliarden Menschen bis 2050 prognostiziert. Was bedeutet die ausufernde Urbanisierung für die Umwelt und die Gesundheit der inkarnierten Menschen als globale Schicksalsgemeinschaft? Und wie kann in dem dicht gedrängten Zusammenleben der Menschen auf engstem Raum die Lebenserhaltung und Lebensfülle der Menschen und der Erde durch zeitgemäße Spiritualität und Mysterienkultur entwicklungs- und zukunftsfähig bleiben?

Durch die Verstädterung und Bevölkerungsentwicklung erleben wir außer der Wirtschaftskrise mit ihren erkennbaren Wachstumsgrenzen eine Zivilsationskrise mit steigenden sozialen und seelischen Belastungen. Vor allem die gleichzeitige Umweltbelastung gefährdet immer stärker die menschliche Gesundheit: Staub, Lärm und Gift sowie eingeschränkte Lebensqualität überall im Chaos der materialistisch geprägten Städte und Ballungsräume auf dem gesamten Globus. Das ausgleichende Zusammenspiel von Stadt und Land als sich ergänzende Kultur- und Versorgungsräume funktioniert nicht mehr. Wir stehen vor neuen, nie dagewesenen sozialen Herausforderungen. Was ist zu tun?

Die einstige Stadtkultur befindet sich im Niedergang und die Landkultur in der Zerstörung und Überforderung. Die größte Herausforderung ist neben dem Klimaschutz die Wasserknappheit und der Ernährungsmangel, zumal die Verstädterung die eigentlich notwendige flächenmäßige Ausweitung der biologischen Landwirtschaft, deren Produkte zunehmend nachgefragt sind, einschränkt. Im Gegenteil, befinden sich in den fast flächendeckenden Ackergiften bis zu 70 verschiedene Chemikalien und 60% des Grundwassers sind mit Schadstoffen belastet. Wasserknappheit und Ernährungskrise spitzen sich absehbar zu.

Gentechnik zur geistlosen Ernährung der Stadtbevölkerung?

Der Hälfte der Menschheit drohen Hungersnöte, zumal der Klimawandel die Ernteerträge von Grundnahrungsmitteln wie Mais oder Reis in den Tropen und Subtropen, aber auch in den gemäßigten Zonen bei deutlich steigender Bevölkerungszahl verringern wird. Auch Lebensräume und Anbauflächen werden entzogen in geschädigten Klimazonen mit Klimaflüchtlingen. Entgegen den Empfehlungen des Weltagrarrates setzen die verstädterten Industrienationen, die deutsche Bundesregierung ebenso wie die EU und die USA, auf ungeeignete, Problemverschärfende Maßnahmen: Weiterhin soll der Welthunger mit Gentechnik und Wirtschaftswachstum bekämpft werden, so empfahl im vorigen Jahr eine Arbeitsgruppe der deutschen Bundesregierung, die sich mit Fragen der Welternährungslage auseinandergesetzt hat. Im Agrarbericht ist die Rede von einer „verantwortungsvollen Nutzung der grünen Gentechnik“ statt von einer Abkehr von industriellen Monokulturen, getreu dem materialistischen Welt- und Menschenbild der (un-)verantwortlichen Zeitgenossen.

Der Weltagrarrat fordert hingegen eine lebendige Landwirtschaft, die Wasser, Boden und Artenvielfalt erhalte und ausbaue sowie gesunde Ernährung ermögliche. Vor allem bedarf es laut Rudolf Steiner geistiger Nahrung für die Menschen, um den Welthunger zu besiegen und in der Kultur- und Zivilisationsentwicklung eine zukunftsfähige Wende zu bewirken. Nur der Geist kann den Hunger besiegen und den sozialen Niedergang in den Aufstieg verwandeln. Es geht also um gelebte Spiritualität. Wo aber finden wir heute auf dem verstädterten, dicht bevölkerten Globus die geistigen, spirituellen Quellen und Orte, die uns befähigen, die großen Menschheitsherausforderungen zu meistern?

Ist nicht die Zeit der mittelalterlichen Klöster auf dem Lande vorbei?

Den Übersättigten wie den Hungernden fehlt es an geistiger Nahrung und authentischer geistiger Erfahrung, um den Irrweg zu erkennen und menschliche Zukunft und Entwicklung nachhaltig zu fördern. Es mangelt an gelebter Spiritualität, obwohl die Menschheit vor allem in den naturfernen Agglomerationen danach hungert und dürstet. Kann heutzutage eine neue Mysterienkultur in einer urbanen, krisenhaften und dekadenten Zivilisation mit niedergehender Kultur und chaotischen Lebensverhältnissen noch an mittelalterliche Klösterkultur anknüpfen, wie von Anthroposophen trotz Verneinung „luziferischer Weltflucht“ thematisiert?

Dienen klosterartige Siedlungen auf dem Land in der gegenwärtigen Situation, in der aus Geistesgegenwart unmittelbar zu handeln ist wegen der „Gefahr im Verzuge“, der Rettung der Erdenzivilisation und humaner Zivilisationsformen, indem abseits des bewegten urbanen Weltgeschehens in kleinen, abgeschlossenen Gruppen und Gemeinschaften unbehelligt Spiritualität meditativ entfaltet wird, um dadurch einen neuen Mysterienimpuls über spirituelle Orte und Gemeinschaften zu begründen? Ist dadurch das Zeitphänomen der für unsere Entwicklung notwendigen Verstädterung und Industriealisierung für die bald 9 Milliarden Menschen aufzuhalten oder alsbald umzukehren durch Rückkehr der Milliarden Stadtbewohner in die längst zerstörten und teils unbewohnbaren Naturräume, deren zeitaufwändigen Heilungsprozesse kaum begonnen haben? Ist heutzutage nicht nahezu jeder Ort ein spiritueller Ort, wo Menschen sozial oder geistig zusammenwirken? Soziales Leben ist Geistesleben. Bei der Zweiggründung in Bochum, inmitten der aufkommenden Industrialisierung und Elektrifizierung im Industrierevier, hatte Rudolf Steiner darauf hingewiesen, dass die Ablehnung dieser industriellen Entwicklungsphase von Unverständigkeit zeugen würde.

„Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt“

Die vielfach unverstandene Aussage des sozial engagierten und anthroposophisch inspirierten Künstlers Joseph Beuys „Die Mysterien finden im Hauptbahnhof“ statt, weist in eine entgegen gesetzte spirituelle Richtung: auf die alltägliche Herausforderung und Menschenbegegnung auch im städtischen Lebensraum als spirituelles Erlebnis und kultische Handlung – die Agglomeration als Mysterienstätte. Denn für spirituelle Oasen und Biotope gegen die Todeswüsten gibt es heutzutage und in naher Zukunft kaum noch Nischen und Rückzugsräume. Die esoterischen Übungen finden im prallen Leben statt und die wahren Geisteskämpfe toben auf den urbanisierten Schauplätzen der verstädterten Welt, in den sozialen Brennpunkten und zerstörten Umweltzonen, auf den sozialen Kampffeldern und in den beruflichen Zusammenhängen der Menschen in den Produktions- und Dienstleistungstürmen oder Sozialämtern– denn soziales Leben ist Geistesleben, und dort will die veranlagte soziale Dreigliederung zum Durchbruch gelangen. Hier finden die Mysteriendramen statt.

Haben dennoch beide spirituellen Strömungen ihre Berechtigung nebeneinander, oder ist es nicht an der Zeit, die verschiedenen spirituellen Strömungen in diesem dramatischen 21. Jahrhundert, in dem fast die gesamte Menschheit als geistige Gemeinschaft die Erde bevölkert, allmählich zusammenzubringen statt zu separieren - und Spiritualität zeitgemäß zu leben, statt das Innenleben vom Außenleben zu trennen? Eine spirituell wirksame Vollgestalt sollte die insgesamt vier Strömungen oder Grundformen gelebter Spiritualität (auch durch den einzelnen Menschen) zu einer Ganzheit zusammenbringen, wie sie nicht nur als Strömungen in der oftmals zerstrittenen Anthroposophenschaft unterschieden werden, sondern auch schon als vier aufeinander aufbauende Grundformen in der Geschichte des Christentums.[1]

Spiritualität, die wirklich hilft: Vier Formen der Spiritualität zuammenbringen

Die mystische Dimension (via negativa), bei der es der Mensch wagt, sich dem Dunklen des Lebens auszusetzen, leer zu werden, um erfüllt zu werden, als Mystiker, Meditierender, Beter oder Schamane. Die ästhetische Dimension (via positiva) als traditioneller Weg der empfindungsstarken oder seherisch begabten Menschen, bei dem es darum geht, hinter die Oberfläche der Dinge zu schauen und wahrzunehmen, was die Welt im Innersten verbindet und zusammenhält. Die praktische Dimension des kreativen Weges (via kreativa), dessen Menschen durch ihren Ideenreichtum und ihre künstlerische, kreative Arbeit spirituell leben – auch wenn manche Menschen künstlerisches, dichterisches oder gärtnerisches Tun nicht als spirituelles Gestalten verstehen.

Und schließlich als Steigerung der heute besonders wichtige und sehr zeitgemäße transformierte Weg der sozialpraktischen und sozialkünstlerischen, ethischen Dimension (via transformativa), der von Propheten, Kämpfenden und Protestierenden gegangen wird, indem sie sich den Bedürftigen zuwenden und sich dort engagieren, wo sie sich angefragt und gefordert fühlen – ein Handlungsorientierter Willensweg unserer Zeit, in der Gefahr im Verzuge ist. Auf diesem Wege entwickelt sich zivilgesellschaftliche Wachheit und Verantwortung sowie Sozialkompetenz, um wirklich verändernd in die aktuellen Geschehnisse eingreifen zu können. Die Zeit der bloßen Mystiker ist vorbei.

Transformation der Spiritualität ins urbane Leben statt esoterischer Narzissmus

Erst durch die Transformation der Spiritualität ins heutige urbane Leben, also auf die für das derzeitige Erdenleben höchstwirksamste spirituelle Entwicklungsstufe, tragen wir Geistiges ins Erdenleben sowohl für das soziale Zusammenleben in Gemeinschaften als auch zur heilenden Durchgeistigung der geschundenen Erdennatur. Alles andere ist nur eine notwendige Vorübung und Vorstufe zur Erlangung der höchstmöglichen individuellen, sozialen und ethischen Handlungskompetenz, mit der unsere Willenshandlungen in die Zukunft wirken, als unsere eigentliche Erdenmission.

Also das Gegenteil von weit verbreiteter neurotischer, als Narzissmus um das eigene Selbst kreisender Spiritualität als Mogelpackung und als Gegenteil von christlicher Spiritualität. Wenn wir uns davon befreien, erkennen wir die Chancen der vielfältigen Menschenbegegnungen auf unserem urbanisierten, verstädterten, dicht bevölkerten und vielfach zerstörten Planeten als notwenige Entwicklungsstufe und spirituelle Prüfung. Werden wir diese Gralsprüfung des 21. Jahrhunderts bestehen, oder verschanzen wir uns mangels spiritueller Reife und wegen fehlenden zeitgenössischen Lebensmutes hinter dicken Klostermauern, um die Weltverbesserung herbeizumeditieren, damit die anderen für uns im Erdenleben handeln?


[1] Der Psychotherapeut und Theologe Norbert Copray, geschäftsführender Direktor der Fairness-Stiftung und Autor zahlreicher Bücher, führt dieses in der Zeitung Publik-Forum Nr. 1/2008 näher aus.