Wilhelm Neurohr

Leserbrief an die Recklinghäuser Zeitung zum Artikel vom 25.10.206: „Die Glaubwürdigkeit der EU steht auf dem Spiel“ mit Kommentar von Tobias Schmidt: „Demokratie in Europa bleibt auf der Strecke“.

„GLAUBWÜRDIGKEITSVERLUST DER EU BEI CETA LIEGT NICHT AN DEN WALLONEN“

„Wenn Ceta an den Wallonen scheitert, dann bleibt die Demokratie in Europa auf der Strecke“, so behauptet der Kommentator Tobias Schmidt dramatisierend. In Wirklichkeit würde jedoch die Demokratie in Europa dann auf der Strecke bleiben, wenn Ceta trotz des wallonischen und europaweiten zivilgesellschaftlichen Widerstandes in Kraft gesetzt würde. Denn dann würde fortan die neoliberale Wettbewerbsideologie als übergeordneter Maßstab verbindlich darüber befinden, wann demokratisch und parlamentarisch beschlossene Umwelt- oder Sozialgesetze und Regelungen zur öffentlichen Daseinsvorsorge als gewinnschmälernde „Handelshemmnisse“ zu beseitigen wären - und somit wirtschaftliche Konzerninteressen verfassungswidrig über das Gemeinwohl und den Rechtsstaat mit seiner Gewaltenteilung gestellt würden. Nicht gewählte Handelskommissare und offiziell einbezogene Lobbyisten haben mittels Ceta mehr zu sagen als 28 demokratische gewählte Volksvertretungen?

In Wahrheit sind die berechtigten Kritikpunkte der Wallonen an CETA voll identisch mit den „roten Linien“, die der SPD-Konvent dazu beschlossen hatte, wie mehrere SPD-Bundestagsabgeordnete laut Presse bestätigten, über die sich aber SPD-Chef Gabriel und EU-Präsident Martin Schulz (SPD) bekanntlich hinweggesetzt haben. Dass über 2000 Kommunalparlamente in ganz Europa (die meisten auch mit Stimmen von CDU oder Konservativen) sich aus Sorge um die Kommunale Daseinsvorsorge zu „Ceta-freien Zonen“ erklärt haben, findet ebenso wenig Erwähnung in den Medien wie die 3,5 Mio. Unterschriften der Bürgerinnen und Bürger in ganz Europa gegen Ceta oder die übereinstimmenden Umfragen, wonach weit über 60% der Bevölkerung gegen Ceta und TTIP votieren, die auch zu Hunderttausenden gegen Ceta demonstrierend auf die Straße gingen.

Erst recht wird das von 250.000 Bürgen unterstützte und noch laufende Verfassungsgerichtsverfahren ignoriert, bei dem absehbar ist, dass strenge Anforderungen auch an die notwenige Beteiligung des nationalen Parlamentes vor der voreiligen Unterzeichnung und anstelle einer „vorläufigen“ Inkraftsetzung gestellt werden. So hat die EU laut europäischem Gerichtshof auch keinerlei Zuständigkeiten für die kommunale und regionale Ebene, hier gilt das Subsidiaritätsprinzip, dennoch beschneidet Ceta kommunale Selbstverwaltungs-Hoheiten.

Erschreckend ist nun, wie sich trotzdem nahezu alle Medien unisono am Wallonen-Bashing beteiligen mit Behauptungen wie: „Eine Region blockiert die EU“ oder „Die Glaubwürdigkeit der EU steht auf dem, Spiel.“ Stets erklärt man die kleinen Länder zu widerspenstigen EU-Blockierern: Mal waren es in den Medien „die Iren als unbedeutende Schafzüchter“, die den neoliberalen Lissabon-Grundlagenvertrag der EU blockieren wollten, mal waren es die „uneinsichtigen Griechen“, die den Brüsseler Spardiktaten nicht gehorchen wollten, nun ist es die „kleine Region Wallonien“, die sich eine demokratische Mitsprache anmaßt. Die Medienvertreter haben nicht mitbekommen: „Wallonien ist überall“ in Europa, wie allein die „taz“ in der Ausgabe vom 26. Oktober titelte.

Denn den „demokratische Glaubwürdigkeitsverlust der EU“ haben nicht die Wallonen herbeigeführt, sondern daran ist die EU-Kommission selber schuld uns gibt damit den wachsenden Europa-Skeptikern der rechtspopulistischen Szene eine Steilvorlage. Hatte sie nicht sieben Jahre lang Geheimverhandlungen zu CETA geführt und die Kritiker und Abgeordneten vertröstet, dass sie erst das endgültige Verhandlungsergebnis abwarten sollten. Nun liegt es vor und es erhebt sich begründete Kritik, aber nun fordern die Medien unisono, die Entscheidungen müssen zentral im bürgerfernen Brüssel und Straßburg und nicht zugleich in den Nationalparlamenten unter Zeitdruck erfolgen: „Das EU-Parlament soll allein entscheiden“.

Haben die Medienvertreter übersehen, dass dem EU-Parlament, das ebenfalls jahrelang die Geheimdokumente der verhandelnden EU-Beamten nicht einsehen durfte, gar kein richtiges Parlament ist, weil ihm die parlamentarische Kernkompetenz zu eigenen Gesetzesinitiativen ebenso fehlt wie wirksame parlamentarische Kontrollfunktionen? Und dass die EU-Abgeordneten, von denen laut Lobbycontrol über 200 über Verträge mit Wirtschaftsunternehmen Nebeneinnahmen erzielen, nur über Listen gewählt werden, es also gar keine Wahlkreise und Direktkandidaten gibt und damit auch keinen Bürgerdialog vor Ort? Und dass mit wenigen Ausnahmenfällen sämtliche ausgeschiedenen EU-Kommissare anschließend ohne Karenzzeit zu Finanz- und Wirtschaftsunternehmen oder Lobbyverbänden für ihre ehemaligen Aufgabengebiete gewechselt haben? Solange diese skandalösen Zustände und eklatanten Demokratie-Defizite bei der EU nicht grundlegend verändert werden, solange können demokratische Entscheidungskompetenzen nicht allein auf die Zentralebene verlagert werden. sondern die EU schafft sich dann selber ab, auch ohne die Wallonen.

Wilhelm Neurohr