Wilhelm Neurohr

„Lobbyismus als Gemeinnützigkeit?“

Leserbrief vom 16. März an die Ruhr-Nachrichten (wurde nicht veröffentlicht)

Da hat es die Bertelsmann-Stiftung mit ihrer Studie über die Auswirkung der demografischen Alterung auf die Sozialsyteme mal wieder auf die Titelseite der Zeitung geschafft. Der altbekannte neoliberale Tenor: Die Rentenaltersgrenze dynamisch erhöhen, Sozialleistungen senken und die Jungen von den Zahlungen für die teuren Alten entlasten. Mit dieser gebetsmühlenartigen Panikmache hat Bertelsmann schon für die Teilprivatisierung der Rentenversicherungen zugunsten der Versicherungskonzerne sowie für Hartz IV getrommelt und damit für die Umverteilung von unten nach oben. In Wirklichkeit hängt die Frage der Finanzierbarkeit der Sozialsysteme viel mehr von der Wirtschaftskraft eines Landes ab und davon, welcher Teil des erwirtschafteten Geldes zur Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben verwendet wird. Während man Attac die Gemeinnützigkeit aberkennt, darf die konzerneigene Bertelsmann-Stiftung ihren Lobbyismus weiterhin als „gemeinnützig“ betreiben, mit Unterstützung der Tageszeitungen?

Wilhelm Neurohr, Haltern

Da der kurze Leserbrief von der Redaktion der RN nicht veröffentlicht wurde, hier der zeitlos gültige veröffentlichte Leserbrief zum gleichen Thema von 2011 in der RZ:

"Die Rentenlüge der Politiker ist Volksverdummung"

Veröffentlichter Leserbrief aus dem Jahr 2011 in der "Recklinghäuser Zeitung"

Bei der neu entfachten politischen Debatte um die Rente mit 67 in Deutschland, die es in keinem anderen europäischen Land gibt, wird wieder gebetsmühlenartig die demografische Verschiebung der Altersstruktur als Vorwand für Rentenkürzungen aufgetischt. Weiterhin will man uns weismachen, dass wegen der Überalterung der Gesellschaft nicht mehr genug Geld da sei, um die Altersversorgung sicherzustellen. Deshalb müsse angeblich die Altersgrenze für den Renteneinstieg stetig angehoben werden, zumal „die Menschen immer länger leben und gleichzeitig weniger Kinder bekommen“, so lautet das beliebte und schlichte (vorgeschobene) Argument.

Dieses scheinbar logische und oberflächlich einleuchtende Rechenexempel, wonach nur 4 Erwerbstätige einen über 65-jährigen mitversorgen müssen (in 40 Jahren werden es nur noch zwei sein), ist aber ein ziemlicher Schwindel. Denn in Wirklichkeit ist nicht die sich wandelnde Altersstruktur der Bevölkerung das eigentliche Problem als „Sachzwang“ bei der Rentenfinanzierung, sondern die Art und Weise, wie die Gesellschaft damit umgeht.

Tatsächlich hängt die Frage der Finanzierbarkeit der Sozialsysteme viel mehr von der Wirtschaftskraft eines Landes ab und davon, welcher Teil des erwirtschafteten Geldes zur Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben verwendet wird, etwa auch über steuerliche Zuschüsse für die gesetzliche Rentenkasse. Bisher wurden die Renten für die älteren Menschen von dem Geld finanziert, das der erwerbstätige Teil der Bevölkerung in die Sozialversicherungen einzahlte, gerecht gestaffelt nach der Höhe des Einkommens. Mit den nun eingeführten privaten Rentenfonds will man Wohlhabende weniger Sozialbeiträge zahlen lassen, zu Lasten der Durchschnitts- und Geringverdiener.

Wer von Demografie redet, um die Renten zu kürzen, hat sich auf eine beständige Umverteilung von unten nach oben eingestellt. Den eigentlichen demografischen Wandel hat unsere Gesellschaft nämlich längst hinter sich: Vor 100 Jahren kamen auf einen über 65-jährigen noch 12 Erwerbstätige, 1950 waren es sieben. (Diese mussten neben den Rentnern auch noch wegen des Kinderreichtums zahlreiche junge Menschen mitversorgen, so dass die sozialen Versorgungsleistungen der Gesellschaft nicht an
den Altersgruppen festgemacht werden können!). Die Rente zahlen nicht die Jungen für die Alten, sondern die Beitragszahler für die Beitragsempfänger.

Mit der ständig gestiegenen Produktivität bei steigenden Einkommen trotz kürzerer Arbeitszeit ist diese dramatische demografische Veränderung spielend bewältigt worden. Auch in Zukunft wird sich mit der ständig steigenden Produktivität (1,8% jährlich) unserer Volkswirtschaft der gesellschaftliche Reichtum in den nächsten 50 Jahren verdoppeln, d.h. vom Baby bis zum hundertjährigen Rentner wird für jeden der doppelte Reichtum zur Verfügung stehen. Es stellt sich lediglich die Verteilungsfrage. Denn immer weniger Beschäftigte werden bei steigender Produktivität in der Lage sein, auch immer mehr Rentner zu versorgen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Frage der Heraufsetzung des Rentenalters absurd, es könnte vielmehr drastisch heruntergesetzt werden, denn je mehr erwerbslose Frauen und Jugendliche dadurch in Arbeit kämen, desto mehr Einzahler gäbe es wieder für die Rentenkasse.

Ein stattdessen künstlich geschürter Scheinkonflikt und Verteilungskampf zwischen jüngerer und älterer Generation ist für die Rentenfrage dabei ebenso ungeeignet wie die von Lobbyisten erreichte Teilprivatisierung der Altersvorsorge („Riester-Rente“) in Form risikoreicher privater Rentenfonds und Wertpapiere, die nur bis zum nächsten Börsencrash sicher sind. Statt 4% zusätzlich in die private Altersvorsorge zu stecken, wäre eine nur 2%ige Erhöhung des gesetzlichen Rentenbeitrages viel effizienter, sicherer und nachhaltiger, auch wenn sich die Arbeitgeber und Selbständigen gegen die solidarische Mitfinanzierung wehren.

Demografie ist also nicht die Ursache, sondern lediglich der Vorwand für breite soziale Verschlechterungen – deshalb ist die aktuelle Rentendebatte eine Chance, die „Rentenlüge“ und die „Demografielüge“ zu entlarven statt sie als Volksverdummung über die Medien täglich in die Köpfe zu hämmern. Der individuell gewählte Berufsausstieg zwischen 60 bis 65 ohne Rentenabstriche ist keine Finanzierungsfrage, sondern scheitert nur an bestimmten Interessengruppen und davon abhängigen Politikern.

Wilhelm Neurohr, Recklinghausen