Wilhelm Neurohr

Betr.: Fehleinschätzungen zu Themensetzungen der SPD

Sehr geehrter Herr Weil,

gegenüber der Frankfurter Allgemeinen haben Sie heute als SPD-Vorstandsmitglied in Ihrer Analyse der „richtigen und falschen Themensetzungen der kriselnden SPD“ öffentlich behauptet (Zitat): „Auch die Debatten über Freihandelsabkommen oder Vorratsdatenspeicherung interessiert kaum jemanden“.

Kann es sein, dass Sie am Beispiel der Freihandelsverträge die größte deutsche und europäische Bürgerbewegung seit Bestehen der EU nicht wahrgenommen haben und deshalb zu einer SPD-typischen Fehleinschätzung der Bürgeranliegen gelangt sind? Und dann wundern sie sich über den Absturz der SPD auf unter 16% und schieben das allein auf die Personaldebatten?

Alles das haben Sie offenbar in Ihrer Analyse übersehen:

  • Mit 350.000 (!) Teilnehmerinnen und Teilnehmern hat es im Oktober 2015 in Berlin und anderen Städten gegen die Freihandelsabkommen TTIP, CETA und TISA die größte Demonstration in diesem Jahrhundert in Deutschland gegeben (mit Teilnehmern vor allem aus dem rot-grün-roten Spektrum).
  • Mit 250.000 Unterstützern (!) hat es 2016 die größte Bürgerklage seit Bestehen der Bundesrepublik vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Freihandelsabkommen gegeben.
  • Mit 3,2 Mio. Unterschriften (!) hat es gegen die Freihandelsabkommen das größte europäische Bürgerbegehren (EBI) seit Bestehen der EU gegeben.
  • Über 2000 Kommunalparlamente (!) in Deutschland und Europa haben sich in Sorge um die kommunale Selbstverwaltung gegen die Freihandelsabkommen ausgesprochen oder sich symbolisch zur „TTIP-freien Zone“ erklärt (vor allem die SPD-regierten Städte und Gemeinden, aber auch mit den Stimmen der CDU-Fraktionen).In nahezu allen 13.000 Städten und Gemeinden in Deutschland (und ähnlich in anderen EU-Staaten) hat es flächendeckend örtliche und regionale Bündnisse und gut besuchte bis überfüllte Veranstaltungen zum Thema der Freihandelsabkommen gegeben.
  • Außer der Zivilgesellschaft haben sich nahezu alle gesellschaftlichen Einrichtungen – von den Gewerkschaften und Sozialverbänden sowie kommunalen Spitzenverbänden über die Kirchen und mittelständischen Interessenverbände bis hin zu den Kulturschaffenden und auch Parteiorganisationen (einschl. SPD-Arbeitsgemeinschaften und Grundwertekommission) dazu kritisch positioniert.

Also eine gesamtgesellschaftliche Bewegung, aber von der SPD ignoriert? Es gehört schon eine Portion Autismus dazu, dieses Bürgeranliegen nunmehr als nicht existent oder unwichtig zu erklären. Ich nenne diese Thema nur exemplarisch für die Blindheit mancher SPD-Oberen.

Denn es ging den Kritikern nicht „gegen Freihandel“ an sich, sondern für fairen Handel und für Transparenz statt Geheimhaltung. Hier war aber die demokratische Gewaltenteilung und das Primat der Politik in Gefahr durch Selbstentmachtung der Parlamente zugunsten von Lobby-Gremien, ferner die Sozial -und Tarifstandards sowie die Umweltstandards u. v. m. in Gefahr. Also klassische sozialdemokratische Themenfelder!

Mit den „roten Linien“ der SPD per Mehrheitsbeschluss wurde zunächst die Sorge der Bürger widerwillig (nur auf Druck der SPD-Basis) von der Parteispitze aufgegriffen, dann aber durch Parteichef Gabriel missachtet und seither als Thema ausgeblendet.

Nicht nur an diesem Beispiel zeigen sich die eigentlichen Probleme der führenden Sozialdemokraten, die im Vorstand immer noch nicht begriffen haben, was die Basis und die Bürger gegen die Parteioberen momentan so aufbringt.

Man kann nur noch politische Wahrnehmungsstörungen höchsten Ausmaßes attestieren. (Das hat mich nach 33 Jahren aktiver SPD-Mitgliedschaft seit 1967 vor 16 Jahren aus der SPD herausgetrieben…) Die Partei ist soweit von den Bürgern entfernt, wie nie zuvor und wie keine andere Partei, das belegt die Aussage von Stephan Weil eindrucksvoll.

Mit nachdenklichen Grüßen

Wilhelm Neurohr