Wilhelm Neurohr

Rettungsplan für Europa

Wie wünschen sich die Menschen in Europa die EU?

Teil I:

Zum Stand der Diskussion um die EU-Reform im Frühjahr 2017

Existenzielle Krise im 60. Jubiläumsjahr

Im 60. Jubiläumsjahr der Europäischen Gemeinschaft ist die EU als neoliberales Elitenprojekt in einer existenziellen Krise, als Ausdruck einer regelrechten Sinnkrise. Europas Zukunft ist ungewiss – Europa wohin, wozu, mit wem und womit? Europa als bloßer Marktplatz oder „Supermarkt“? Der solidarische und demokratische Raum des Friedens und des Wohlstandes für alle ist als Gründungsimpuls kaum noch erkennbar, zumindest nicht für die Vielzahl der sozialen Verlierer. Von der EU gehen keine neuen Impulse aus, obwohl ohne sozialen Frieden kein dauerhafter Frieden in Europa zu erwarten ist.

Europa mit sozialen Rechten?

Zwar hat neuerdings der EU-Kommissionspräsident aus der Luxemburger Steueroase „ein sozialeres Europa“ als öffentlichkeitswirksames Thema entdeckt, nachdem zuvor ein 105-köpfiger EU-Reformkonvent in Brüssel ohne öffentliche Wahrnehmung monatelang über die Grundlagen für ein neues Europa diskutierte. Deshalb entwickelt Juncker einen Vorschlag für den neuen „Europäischen Pfeiler sozialer Rechte“, um die Kritik an der unverändert neoliberalen Grundausrichtung der EU mit ihrer sozialen Katastrophe abzufangen. Aber mit der sozialen Kurskorrektur stößt er nicht bei allen EU-Spitzenpolitikern auf Zuspruch. Schon die Sozialcharta des Europarates von 1965 (überarbeitet 1999) wird nicht ernst genommen.

Weiter so?

Zuvor beschlossen der Europäische Rat und die EU-Kommission als Exekutivorgane auf dem EU-Gipfel von Malta und mit der visionslosen Erklärung von Bratislava noch im September 2016 zunächst ein „Weiter so“. Dabei hatten bis dahin etliche EU-Politiker, darunter auch Tusk, Hollande, Schulz und Gauck, mit pessimistischen Äußerungen ein befürchtetes Auseinanderbrechen der EU beschworen. Dennoch sieht insbesondere die deutsche Bundeskanzlerin Merkel keinerlei radikalen Änderungsbedarf für die EU, deren „wirtschaftliche Stärke und soziale Sicherheit“ sie hervorhebt. Auch lehnt sie jedwede Änderung der EU-Verträge erklärtermaßen ab.

Brüchiges Fundament

Die EU-Spitzenpolitiker wollten beweisen, dass auch ohne überfälligen Umbau der EU in Richtung Demokratie und Sozialstaatlichkeit konkrete Ergebnisse für die EU-Bürger zu erzielen seien – obwohl die EU in ihrer jetzigen Form mit ihrem brüchigen Fundament auf Dauer kaum noch handlungsfähig sein kann, wenn sie nicht auf eine neue Grundlage gestellt wird. Damit obsiegte die Skepsis gegenüber einem Erneuerungsbedarf und einer Erneuerungsfähigkeit der EU. Daraufhin konnten die Rechtspopulisten in Europa die eigentliche Notwendigkeit einer „Totalrevision der EU-Verträge“ für ihre Zwecke des geforderten EU-Ausstiegs ummünzen. Europa ist im Jubiläumsjahr weniger in einer Aufbruchstimmung als vielmehr in einer Abbruchstimmung.

Fünf Rettungsszenarien?

Nur wenige Monate später stellte der amtsmüde EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker plötzlich fünf radikale Rettungsszenarien zur Zukunft der EU vor. Diese reichten von der Beschränkung auf den Binnenmarkt bis hin zu den Vereinigten Staaten von Europa, mit einem dazwischenliegenden Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Er sprach von einer „Wiedergeburt der EU“ und davon, dass die EU „mehr sei als nur eine Freihandelszone für Waren, Geld und Macht“, obwohl viele seine Szenarien eher als einen Rückzugs- oder Abbruchplan der EU deuteten, wenn nicht sogar als eine politische Bankrotterklärung.

Ziele für die nächsten 10 Jahre?

Auf der Grundlage dieser Vorschläge formulierte jedoch am 25. März 2017 die EU in Rom ihre Ziele für die nächsten 10 Jahre als Erklärung zum 60. Jahrestag der europäischen Gründungsverträge. Vergessen ist damit die „Berliner Erklärung“ aus dem 50. Jubiläumsjahr der EU als ungenutzte Chance, zu deren Umsetzung Tatkraft und Entschlossenheit fehlten. Und vorerst eingedämmt sind damit alle weitergehenden Reformvorschläge und Forderungen von verschiedener Seite.

Spaltung Europas

In Wirklichkeit ist Europa heute politisch, wirtschaftlich und sozial gespalten und hat erkennbar keine begeisternden Zukunftsziele und -visionen mehr. Das Nord-Süd-Gefälle wird immer größer und das Säbelrasseln der Nato in Osteuropa immer lauter. Die Ursprungsidee des vereinten Europa ist geradezu degeneriert und hatte zuletzt fast nur noch die Organisation der allgemeinen Marktkonkurrenz im Mittelpunkt – die EU als bloßer Wettbewerbshüter? Als Folge dessen erleben wir nunmehr nunmehr Renationalisierung, Entsolidarisierung, Werteverfall und soziale Spaltung sowie Aufrüstung.

Vertrauensverlust für die EU-Politik

Laut einer Umfrage unter jungen Europäern von März bis April 2017 (im Rahmen der Jugendstudie „Generation What“ mit fast einer Million Teilnehmern zwischen 18 und 34 Jahren) haben nahezu 60 Prozent kein oder nur geringes Vertrauen in die EU und 82% der Befragten wenig bis gar kein Vertrauen in die Politik allgemein. Überhaupt kein Vertrauen mehr in die (Europa-) Politik haben 67% der jungen Menschen als „verlorene Generation“ aus dem stark verschuldeten Griechenland.

Grundlegender Richtungswechsel?

Schon 2015 äußerten in einer Bertelsmann-Umfrage 72% der EU-Bürger, Europa bewege sich in die falsche Richtung. Es geht also um nicht mehr oder weniger als um einen grundlegenden Richtungswechsel, denn Europa geht anders. Doch nichts mehr scheuen die maßgeblichen und ideenlosen EU-Spitzenpolitiker, als eine öffentliche politische und Debatte über einen Richtungswechsel ausgerechnet im „Superwahljahr“ in verschiedenen europäischen Ländern.

EU-Kritiker = Europagegner?

Damit überlassen sie teilweise den Rechtspopulisten das Feld der EU-Kritik, während berechtigte und konstruktive Kritik „von links“ und aus der politischen Mitte an den sozialen und sonstigen Fehlentwicklungen der EU als angeblich nicht pro-europäisch ebenfalls ignoriert wird. Alle EU-Kritiker werden mehr oder weniger als Europa-Gegner abgekanzelt, womit erneut Europa mit der EU einfach gleichgesetzt wird. Damit bliebt die EU stur auf ihrem verhängnisvollen Abwärts-Kurs.

Phrasen statt Zukunftsvisionen?

Die Richtung der EU beizubehalten statt zu wechseln, bemühte sich offensichtlich auch der neue deutsche Bundespräsident Walter Steinmeier: Auf seiner ersten großen Rede vor dem EU-Parlament im April 2017 bezeichnete er phrasenhaft „Europa als eine Herzenssache für die allermeisten Menschen in Deutschland, seitdem die Nachbarn Hitlerdeutschland die Hand zum Frieden gereicht und das Schlachtfeld durch den Verhandlungstisch ersetzt haben“. Doch lässt sich mit der zutreffend erinnerten Vergangenheitsbewältigung und dem dankbaren Verweis auf die lange Friedensphase auch Europas Zukunft gestalten mit Blick auf den sozialen Frieden? Und das in Zeiten des neuen kalten Krieges, mit nie zuvor da gewesenen Aufrüstungsrekorden und sich anbahnenden faktischen Handels- und Wirtschaftskriegen durch Marktfundamentalismus, mit mehr Verlierern als Gewinnern außerhalb und innerhalb Europas?

Macht- und geopolitische Ambitionen?

Auf seiner zuvor zitierten Rede vor dem EU-Parlament als neuer deutscher Bundespräsident kritisierte Walter Steinmeier im April 2017 zwar in Offenheit auch politische Fehlentscheidungen des rechtspopulistischen ungarischen Premiers Victor Orban, wie etwa die Schließung der „Central European University“. Auch beklagte er den Brexit und kritisierte den autokratischen Kurs des türkischen Präsidenten Erdogan als einstigem EU-Anwärter, ebenso EU-kritische Äußerungen von US-Präsident Trump, der die EU „nur als ein Mittel zum Zweck für Deutschland“ ansieht. Steinmeiers Warnung vor möglichen neuen nationalen Alleingängen begründete er aber vor allem mit den dann gefährdeten macht- und geopolitischen Ambitionen Europas als „vollwertiger Mitspieler auf der Weltbühne“. Die demokratischen und sozialen Defizite der EU oder ein unverzichtbarer neuer Versuch der Wiederannäherung zwischen Ost und West in Europa mit Abrüstungsinitiativen waren offenbar kein „Herzensanliegen“ des einstigen Außenpolitikers und Agenda-2010-Architekten?

Krisenexporteur Deutschland

Aufgeschreckt treten jetzt vor allem diejenigen systemgetreuen „Retter Europas“ auf den Plan, die für diese Fehlentwicklungen mit verantwortlich sind. Denn auch engagierte pro-europäische Politiker wie Martin Schulz haben dazu beigetragen, mit der Agenda 2010 und mit dem deutschen „Exportweltmeister“ die Krise ins europäische Ausland zu exportieren, statt über Mindestlöhne, Investitionen, Sozialversicherungen, Steuern und Sanktionen auf Exportüberschüsse für eine fairen Ausgleich zu sorgen. Das hat eine neue Debatte über die soziale Ausrichtung Europas mit mehr Solidarität ausgelöst, derweil die deutsche Kanzlerin Merkel sich noch im Vorjahr eindeutig gegen eine Weiterentwicklung der EU zu einer „Sozialunion“ ausgesprochen hatte.

Zweite Parlamentskammer?

Im ersten Quartal des EU-Jubiläumsjahres 2017 - als Superwahljahr in mehreren EU-Mitgliedsstaaten – übertrafen sich weitere EU-Verfechter mit allerlei Reformplänen und -bekenntnissen zur EU, die gemeinhin mit Europa gleichgesetzt wird. So plädierte beispielsweise der lang gediente konservative Europa-Abgeordnete und Bertelsmann-Lobbyist Elmar Brok im Namen der großen Parteien im EU-Parlament für eine zweite Parlamentskammer zur Aufwertung des bisherigen Rates der Mitgliedsländer. Zugleich sollte das problematische Einstimmigkeitsprinzip durch das Mehrheitsprinzip abgelöst werden. Mit diesem sicherlich sehr sinnvollen und institutionell dringend notwendigen Reförmchen soll es insgesamt sein Bewenden haben?

Demokratisierung der Eurozone?

Mit Forderungen nach Demokratisierung der Eurozone war der sozialistische französische Präsidentschaftskandidat Benoit Hamon bei der deutschen Bundeskanzlerin Merkel Ende März 2017 abgeblitzt, die Vorbehalte in politischer und juristischer Sicht gegen jedwede Änderung der europäischen Verträge geltend machte. Damit war der Vorschlag vorerst vom Tisch, die Treffen der Euro-Finanzminister durch ein demokratisch legitimiertes Gremium zu ersetzen, das aus Abgeordneten des EU-Parlaments und der nationalen Parlamente besteht. Auch der deutsche Finanzminister Schäuble hatte sich gegen Ideen von EU-Kommission und EU-Parlament erfolgreich gewehrt, die eine weitreichende Reform der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion anstrebten.

Verkleinerte EU-Regierung?

Der belgische EU-Abgeordnete und frühere belgische Regierungschef Guy Verhofstadt beklagte in einem Interview im Frühjahr 2017 das EU-Konstrukt der Konföderation von Staaten, die auf Einstimmigkeitsprinzip basiert und will die 28 EU-Kommissionen abschaffen zugunsten einer verkleinerten und effizienten 12-köpfigen Europa-Regierung mit voller Demokratie auch auf europäischer Ebene. Die EU-Institutionen aus dem vorigen Jahrhundert seien nicht handlungsfähig. Er bedauert, dass es keine fiskale, politische und verteidigungspolitische Union gibt - die allerdings auch in der Bevölkerung umstritten wäre..

Europa der Regionen?

Doch statt über „mehr Europa“, geschweige über einen mächtigen europäischen Bundesstaat mit 500 Mio. Einwohnern, wollen viele Europäer zunächst über „ein anderes Europa“ diskutieren, unter Einbezug auch der Idee eines „Europa der Regionen“ statt der Nationalstaaten. Doch Regionalisierung mit konsequentem Subsidiaritätsprinzip – das heiß Zuständigkeiten von oben nach unten statt von unten nach oben zu delegieren – wird fast gar nicht mehr ernsthaft diskutiert. Auch frühere Träume der EU-Gründungsväter von einer „europäischen Föderation“, eines föderal organisierten Gesamteuropas als Vermittler in einer globalisierten Welt ohne Blockbildungen, sind in weite Ferne gerückt

Vereinigte Staaten von Europa?

Bereits vor 5 Jahren hatte der grüne Europa-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit zusammen mit dem belgischen Liberalen Guy Verhofstadt ein „Manifest für Europa“ vorgelegt, als „Vision für die Vereinigten Staaten von Europa“, mit einem gewählten Präsidenten, einer gemeinsamen Regierung und einem echten, demokratischen Parlament. Der Liberale ist wie sein grüner Mitkämpfer überzeugt, dass der wahre Grund für die Euro-Krise nicht im „Reformunwillen in den verschuldeten Staaten des Südens“ liegt, sondern in einer mangelhaften, falschen Konstruktion Europas. Doch wie soll mit Reformunwillen an der EU-Spitze eine institutionelle Reform gelingen, die zudem bei diesem Vorschlag sehr umstritten wäre?

Bürgernähe durch Souveränitätsverlust?

In den europäischen Hauptstädten warben sie seither für ihre Idee, die bei Politikern wie bei Bevölkerung nur auf geteiltes Interesse stößt, aus nachvollziehbaren Gründen. Denn der Glaube, dass allein mit der institutionellen Maßstabsvergrößerung zu einem übernationalen, schwer regierbaren zentralistischen und bürgerfernen Einheitsstaat für 500 Mio. Menschen sowie mit eingeschränkter Souveränität der alten Nationalstaaten sich der Nationalismus überwinden und die Zukunft anders gestalten ließe, überzeugt nicht. Die Menschen wollen nicht „mehr EU-Staatlichkeit“, sondern eine andere, bürgernahe EU. Bürgernähe entsteht aber nicht durch Souveränitätsverlust, denn das Volk ist der Souverän.

Staat ohne europäisches Volk?

Gegen einen zentralen europäischen Staaten mit noch mehr Kompetenzen sprechen die fehlenden demokratischen und gesellschaftlichen Grundvoraussetzungen, so etwa die fehlende oder eingeschränkte europäische Öffentlichkeit sowie die Tatsachen, dass es kein „europäisches Volk“, kaum europaweite Medien, keine lebendigen europäischen Parteien und eine unterentwickelte europäische Zivilgesellschaft gibt, wie z.B. der Verein „Mehr Demokratie e.V.“ konstatiert. Hinzu kommen die Probleme durch die Sprachenvielfalt.

Verfassunggebende Versammlung?

Übereinstimmungen der zuvor zitierten Vorschläge der beiden EU-Parlamentarier mit ähnlichen Ideen aus der Zivilgesellschaft gibt es nur in Ansätzen , nämlich: Das neu gewählte Europäische Parlament setzt eine verfassungsgebende Versammlung ein, einen europäischen Konvent, der binnen zwei Jahren mit intensiver Bürgerbeteiligung eine Verfassung für einen föderalen europäischen Staat erarbeitet; in einem EU-weiten Referendum stimmen die Bürger der Verfassung mehrheitlich zu. Soweit, so gut - aber das wäre nur ein Teilaspekt für einen Neustart und Umbau der EU, der ja an der EU-Spitze so nicht gewollt ist.

Neoliberaler Verfassungsersatz?

Eine neue EU-Verfassung ist ja bekanntlich schon einmal bei den Bürgern (per Referendum in Frankreich und den Niederlanden) gescheitert mit dem unsäglichen Versuch,, den EU-Bürgern eine solche Verfassung einfach von oben überzustülpen, und zwar durch einen mehr oder weniger geheimen Konvent und mit unverkennbar neoliberaler inhaltlicher Prägung. Deren problematischen Inhalt finden wir aktuell im gültigen „Lissabonner EU-Reformvertrag“ als Verfassungsersatz nahezu unverändert und mit fehlender verbindlicher Sozialcharta vor, so dass mit diesem problematischen Regelwerk die eingetretenen Krisen nicht lösbar sind, sondern verschärft und verfestigt werden. Denn dort gilt unter anderem der Vorrang unternehmerischer Freiheitsrechte und des freien, ungehinderten Kapitalverkehrs vor sozialen Rechten, außerdem fehlt die Sozialbindung des Eigentums. Der Grundlagenvertrag als EU-Verfassungsersatz wurde also dazu missbraucht, um eine inzwischen gescheiterte Wirtschaftsideologie mit Verfassungsrang zu zementieren und zu legitimieren.

Europa von unten?

Die seit Jahren aus der Zivilgesellschaft entwickelten und sehr weitergehenden Vorschläge für eine umfassende und grundlegende demokratische Reform der EU - z. B. von „Mehr Demokratie e. v.“ oder der Bewegung „Europa von unten“, beginnend mit einem neuen partizipativen Verfassungsprozess - fanden in den Vorschlägen der Eliten im EU-Jubiläumsjahr weiterhin keine Beachtung, geschweige die Vorschläge der europäischen Demokratiebewegung „DIEM 25“ des griechischen Ex-Finanzministers Yanis Varoufakis und anderer pro-europäischer Initiativen. Denn dann müsste die EU mit ihren Heerscharen der dort ein- und ausgehenden Lobbyisten sich einer unangenehmen Diskussion und Überprüfung stellen sowie intransparente Entscheidungsprozesse (siehe geheime Verhandlungen zu Freihandelsverträge) demokratisieren.

Erweiterte „Demokratische Bürgerinitiative“?

Immerhin hat der Vizepräsident der EU-Kommission Anfang April 2017 auf Druck der Zivilgesellschaft und von Teilen des EU-Parlaments eine Erklärung abgegeben, mehr Bürgerbeteiligung in der EU einzuräumen durch Reformierung des Instrumentes der „Europäischen Bürgerinitiative“ zum Abbau der Bürgerferne der exekutivlastigen EU ohne wirksame Gewaltenteilung. Vom EU-Parlament wird auch zum Verdruss der EU-Kommission mehr Transparenz und Kontrolle etwa bei der Besteuerung (Stichwort „Panama-Papiere“) in Europa gefordert.

Radikales Umdenken

Deutschlands führender Sozialethiker Friedhelm Hengsbach fordert öffentlich mehr Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität von Europa, mit mehr direkter Beteiligung des Volkes und mit fairen Beziehungen zu Entwicklungs- und Schwellenländern statt imperialer Handelsabkommen. Er fordert ein radikales Umdenken in der EU: gute Arbeit und Lebensperspektiven für die Jugend im Süden und Osten Europas, einen institutionellen demokratischen Umbau der EU, der Europa eine Stimme in der globalen Welt gibt. Stattdessen verliere sich die politische Klasse im Asylstreit und hält den freien Fall Europas nicht auf; denn nationale Strömungen durchkreuzen die Verständigung und den Zusammenhalt, so dass die EU aus den Fugen geraten sei.

Soziales und transparentes Europa

Auch der rührige grüne EU-Abgeordnete Sven Giegold fordert eine faire Handelspolitik, eine solidarische Flüchtlingspolitik und ein konsequente Klimapolitik sowie ein klares Bekenntnis zu einem sozialen Europa. Und der Verfassungsausschuss im EU-Parlament fordert große Schritte zu mehr Transparenz und Integrität in den EU-Institutionen mitsamt einem Register für Lobbyisten und Verhaltenskodex für EU-Kommissare. Zugleich sieht er als langfristiges Ziel die notwendige Transformation der Kommission zur Exekutive und des Rats der Mitgliedstaaten zu einer gleichberechtigten, zweiten Kammer neben dem Europaparlament. Beide Kammern sollten eigene Gesetzesvorschläge machen können. Ob solche Forderungen bei den Eliten Gehör findet?

„Pulse of Europa“?

Beifall der Eliten bekam hingegen die gutbürgerliche Initiative „Pulse of Europa“, die sich als wachsende EU-freundliche Bürgerbewegung definiert und in zunächst 35 deutschen Städten plus einigen Nachbarländern mit Europa-Fahnen, Europahymne und Luftballons ganz allgemein und unkritisch für die bestehende EU warb, die man mit Europa gleichsetzt. Inzwischen breiteten sich die pro-europäischen Aktionen mit einfachen Phrasen ohne klare Ziele bis Ostern 2017 in 85 europäischen Städten aus. Deren Initiatoren kommen aus der Frankfurter Nobel-Wirtschaftskanzlei Greenfort und dem Kader der Anwaltskanzlei von Freshfields Bruckhaus, die sich bisher durch die unternehmerische Beratung von Privatisierungsprojekten profiliert haben und den klassischen neoliberalen Heuschrecken zugeordnet werden, mit Lobbyzugang zum Bundestag. Unverkennbar scheint ihr hintergründiges Interesse als Profiteure von der Beibehaltung der (neoliberal ausgerichteten) EU-Konstruktion möglichst im bestehenden Zustand.

Europafreundliche Stimmungen?

„Pulse of Europe“ bemüht sich auf diese Weise durch Mobilisierung der Bürger auf der Straße um ein Europa-freundliches Klima auf der Linie der pro-europäischen Öffentlichkeitsarbeit der EU-Kommission. Dabei bekommen sie als selbst ernannte Vertreter der „schweigenden Mehrheit“ viel Zuspruch. Denn bloße europafreundliche Stimmungen ohne Reformdebatten und Neuorientierungen sind scheinbar gefragt. Reicht das aber aus, um Europa aus der Krise zu führen, ohne die eklatanten Fehlentwicklungen zu analysieren und den umfassenden Reform- und Erneuerungsbedarf samt Zielsetzung klar zu benennen und einzufordern?

Was macht Europa aus?

Zu guter Letzt hat das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung im März 2017 noch eine Postwurfsendung und Zeitungsbeilage als EU-Jubiläumsbroschüre im Stile eines Werbeprospektes der EU-Kommission produziert und verbreitet mit dem Titel: „Was macht Europa aus?“. Von Frieden und Freiheit mitsamt Reisefreiheit ist darin die Rede, von grenzenloser Bildung und Schaffung von Arbeitsplätzen, vom Geburtsort der Demokratie, vom Vorgehen gegen Schleuser im Mittelmeer, von 56 europäischen Kulturhauptstädten und 26.000 Naturschutzgebieten sowie 24 Sprachen – und die EU seit „gut für Verbraucher und Unternehmen“. Indem man nochmals diese unbestreitbaren Vorzüge des vereinigten Europa in Erinnerung ruft, plädiert man quasi für ein „Weiter so“ und lenkt damit zugleich geschickt von den gleichzeitigen Krisenerscheinungen und Fehlentwicklungen sowie vom Reformbedarf ab.

Kein Reformbedarf?

Die berechtigten Kritikpunkte und Reformvorschläge sowie Beteiligungswünsche aus der Zivilgesellschaft werden in den europäischen Regierungszentralen vielfach ausgeklammert oder nur rhetorisch bewegt, ob Demokratie-Defizite, Grenzziehungen und Flüchtlingssterben im Mittelmeer, Austeritätspolitik in Griechenland, Brexit, Rechtspopulismus, soziale Spaltung und neue Aufrüstungs- statt geforderter Abrüstungsoffensiven usw. Vom eigentlichen und umfassenden Reformbedarf mit radikalem Richtungswechsel liest man in den offiziellen Konzepten und Verlautbarungen fast kein Sterbenswort, geschweige von der „verlorenen Generation“ in Südeuropa mit 50% Jugendarbeitslosigkeit, von der insgesamt höchsten Armuts-und Arbeitslosenquote sowie Obdachlosenquote in Europa seit Gründung der EU, von den Flüchtlingsdramen in der Festung Europa mit 26.000 Toten im Mittelmeer, vom höchsten Rüstungsniveau und vom neuen kalten Krieg des „Friedensnobelpreisträgers EU“ sowie vom politischen Rechtsruck. Also alles gut in der EU – weiter so, am besten mit unantastbarer und krisentreibender neoliberaler Ausrichtung sowie mit nationaler Dominanz von Deutschland in einem Kerneuropa der Profiteure?

Visionen für Europa?

Selten war dennoch so oft in Sonntagsreden und in den Medien die Rede von notwendigen Visionen für Europas Zukunft, aber selten gab es dazu so wenige substanzielle Beiträge. Solche können auch nur von der Zivilgesellschaft mit einer Bürgerbewegung „von unten“ in einem breiten Beteiligungsprozess (im Bündnis mit fortschrittlichen Kräften aus dem EU-Parlament) kommen, weniger von Parteien, Parlamenten oder Regierungen „von oben“.

Die „großen charismatischen Europäer und Gründungsväter“ der Vergangenheit als Eliten aus Politik und Wirtschaft sind Legende, die neuen Leitbilder und Visionen eines über die EU hinausreichenden Europagedankens können heute nur grenzüberscheitend durch aufgeklärte Menschen „von unten“ mit europäischer und weltbürgerlicher Gesinnung und außerhalb der etablierten „Denkfabriken“ kommen.

EU-Eliten als Seitenwechsler

Warum der notwendige und überfällige Richtungswechsel der EU von den Eliten ausgesessen wird, die sich weinerlich über „unfaire Eliten-Kritik“ aus der EU-Bevölkerung beklagen, liegt auf der Hand: In einer Anfang 2017 veröffentlichten Studie von Tranparency International wurde offengelegt, dass jeder zweite ehemalige EU-Kommissar (oft ohne Karenzzeit) für Lobbyorganisationen oder als Lobbyist bei Banken und Unternehmen arbeitet, allen voran der besonders krasse Fall des Ex-Kommissionspräsidenten Barroso mit dem Wechsel zu Goldman-Sachs oder seiner Stellvertreterin Viviane Reding zu Bertelsmann. Der Umweltkommissar wechselte zum Agrarchemiekonzern Syngenta und die Energie.- und Klimakommissarin zum VW-Konzern. Und der Kanzleichef von EU-Kommissionspräsident Juncker war vorher Bertelsmann-Lobbyist. Die Haushaltskommissarin hatte eine Briefkastenfirma in Panama usw. Aber auch die nationalen Regierungsvertreter (aus Europäischem Rat und Ministerrat) als Seitenwechsler landen zuhauf nach ihrer Amtszeit bei Lobbyorganisationen oder als Unternehmens- oder Bankenvertreter, wo sie sich aus dem Gemeinwohl-Ethos verabschieden, darunter auch viele Ex-Regierungschefs aus EU-Ländern.

Volksvertreter als Lobbyisten

Aber auch jeder Dritte der 485 Europa-Abgeordneten als gewählter Volksvertreter ist inzwischen als Lobbyist tätig. Manche waren es bereits nebenher während ihres Mandates, mit erklecklichen Nebeneinkünften. Und auch der noch amtierende deutsche EU-Kommissar Günter Öettinger wird von Kritikern als „Kommissar der Konzerne“ bezeichnet, weil 90 Prozent seiner Dienstkontakte mit Firmenvertretern stattfanden und er jüngst im Privatjet eines Russlandlobbyisten zu Ungarns Regierungschef Orban flog, um außerhalb seiner Zuständigkeiten über einen Deal beim Atomkraftwerk Paks mit russischer Hilfe zu verhandeln. Für den Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust gegenüber der EU in der Bevölkerung tragen die Eliten also selber die Hauptverantwortung. Ein wirklicher Politikwechsel in Europa funktioniert des halb nur mit einem gleichzeitigen Austausch von handelnden Personen und Köpfen.

Europa – aber welches?

Unter dieser Fragestellung diskutierten am 8. Februar in Duisburg etwa siebzig Europa-Verfechter von der kommunalen und zivilgesellschaftlichen Ebene mit einem für EU-Angelegenheiten zuständigen Staatssekretär ansatzweise über die auch hier angesprochenen Fragestellungen. Nur weniges konnte in einem engen Zeitrahmen und Veranstaltungsformat vertieft werden. Deshalb hier durch den Teilnehmer der Veranstaltung, zugleich Verfasser dieses Beitrages, ein nachfolgend skizzierter „Rettungsplan für Europa“ aus Bürgersicht, als Diskussionsbeitrag für die breite Öffentlichkeit. (Es handelt sich um die Überarbeitung der vorbereitenden Ausarbeitung für die v. g. Veranstaltung)

Teil II:

Rettungsplan für Europa

Wie wünschen sich die Menschen in Europa die EU?

  1. Sozialer Neubeginn - Europa als Sozialunion
  2. Demokratischer Neustart - Die EU als Demokratische Union
  3. Subsidiaritätsprinzip - Europa der Regionen
  4. Friedensnobelpreisträger - Europa als Friedensunion
  5. Kurskorrekturen in der Außen- und Militärpolitik
  6. Europa mit ökologischer Nachhaltigkeit
  7. Europa als kulturelles Projekt
  8. Europa als Kontinent der Menschenrechte und Menschenbegegnung
  9. Die EU als Krisenmanager und Lehren aus der Geschichte

  1. Sozialer Neubeginn - Europa als Sozialunion

  • Die EU muss den konsequenten Schritt zu einer Sozialunion mit einem sozialen Neubeginn vollziehen. Denn Europa wird weniger an der Euro-Frage oder der Flüchtlingsfrage scheitern, sondern an der ungelösten und sich zuspitzenden sozialen Frage. Ohne sozialen Frieden gibt es jedoch keinen dauerhaften Frieden in Europa.
  • Die EU muss ihren Bürgerinnen und Bürgern die verfassungsmäßige Garantie ihrer sozialen Grundrechte geben. Die sozialen Rechte müssen wieder über den unternehmerischen Freiheitsrechten und dem freien Kapitalverkehr stehen und der Primat der Politik über dem Primat der Wirtschaft. Die Sozialverpflichtung des Eigentums ist auch in den EU-Verträgen verbindlich zu verankern.
  • Die soziale Spaltung muss überwunden und der soziale Frieden als oberstes Gebot durch soziale Gerechtigkeit gewährleistet werden; Solidarität in Europa muss geübt und gelebt werden. Eine solidarische EU muss auf Gleichberechtigung und soziales Miteinander gegründet werden.
  • Dazu ist ein gemeinsamer öffentlicher Diskurs über die Ausgestaltung einer Sozialunion und eines europäischen Sozialmodells einzuleiten (und damit sind die Versäumnisse des Mastricht-Vertrages auszuräumen).
  • Die Grenzen und Möglichkeiten sowie Schritte und Stufen eines gemeinsamen solidarischen Sozialmodells sind auszuloten, aber auch die Gefahren einer Harmonisierung zu berücksichtigen (ärmere Länder können z. B. nicht höhere Sozialstandards leisten und reichere Länder möchten nicht gerne abgeben). Ein Solidarausgleich sollte versucht und Grundeinkommensmodelle erprobt werden.
  • Zur Finanzierung eines gerechten europäischen Sozialmodells sind steuerliche Anpassungen und Umverteilungen nicht auszuklammern, sondern Steuergerechtigkeit herzustellen unter anderem durch Erhebung einer europäischen Finanztransaktionssteuer (Tobinsteuer), aber auch gemeinsame Vereitelung von Steuerflucht und Steuerhinterziehung, einhergehend mit wirksamer Finanzmarktregulierung.
  • In einer europäischen Sozialunion sind die Rechte und der Einfluss europäischer Gewerkschaften zu stärken und die fortschrittlichsten Mitbestimmungsmodelle zu fördern sowie Arbeitnehmerrecht und Schutzstandards sowie Arbeitnehmerklagerechte auf höchstmöglichem Niveau zu sichern. Beim grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt sollte das wettbewerbsverzerrende „Herkunftslandprinzip“ obsolet werden
  • Das Lohndumping in Europa und das zugrundeliegende neoliberale Dogma ist zu beenden und stattdessen sind Mindestlöhne und Grundeinkommen sowie Grundversorgung aller Bevölkerungsgruppen zu sichern und ein annähernd gleiches Rentenniveau nach den vorbildlichsten Rentenmodellen. Altersvorsorge und Spareinlagen sind wirksam abzusichern.
  • Durch den schrittweisen Aufbau einer europäischen Sozialversicherung (mit gestaffelten Beitrags- und Leistungsniveaus je nach länderspezifischen Voraussetzungen wie z. B. Lebenshaltungskosten, Kaufkraft, Preis-und Einkommensniveau etc.) soll kein Europäer mehr durch das soziale Netz fallen.
  • Die Förderung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen und Qualifizierungen muss als ehrgeiziges Ziel der Sozialunion gelten, die dazu einen europäischen Sozialbeirat einrichtet. Dieser sollte auch eine gemeinsame europäische Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik begleiten
  • Soziale Maßstäbe und Zielsetzungen sowie Erfolgskontrollen sollten u. a. über einen Sozialindex auch bei den Wachstumszielen als Steuerungsinstrument eingeführt werden. Die Reduzierung von Armutszonen und das Bremsen von Reichtums-Exzessen (infolge anhaltender Umverteilung von unten nach oben) muss dabei zu den ehrgeizigen Zielen gehören.
  • Gestärkter Verbraucherschutz und verbesserte Verbraucherrechte sollten zum Zielkatalog einer Sozialunion gelten, die auch Preisdiktate durch Monopolbildungen durch wirksameres europäisches Kartellrecht unterbindet.
  • Die EuGH-Rechtsprechung ist auf der Grundlage einer Europäischen Verfassung mit Sozialcharta und Grundrechtecharta (nach Bürgerkonvent und Volksabstimmung) auf EU-Sozialstaatsgebote zu verpflichten und die Richter darauf zu vereidigen; die Einrichtung eines Europäischen Sozialgerichtshofes sollte diskutiert werden.

Anmerkungen:

Mit dem Vorrang der unternehmerischen Freiheiten über den sozialen Rechten in der EU wurde das europäische Sozialmodell demontiert, infolge der Demokratiedefizite und der neoliberalen Ausrichtung. Dies muss korrigiert werden ohne Rücksicht auf Lobbyinteresen aus der Wirtschafts- und Finanzwelt.

  • Über 22 Millionen Arbeitslose in Europa als bisheriger Höchststand sind nicht weiter hinnehmbar, erst recht nicht 42% bis 54% Jugendarbeitslosigkeit der „verlorenen Generation“ in Südeuropa.
  • Jeder 4 Europäer und jedes 5. Kind lebt in Europa unter der Armutsgrenze.
  • Europa lässt die größte Kluft zwischen Arm und Reich zu, die es je zuvor in Europa gab, ebenso die höchste Obdachlosigkeit, allen voran Deutschland.
  • Das reichste und wirtschaftstärkste Musterland Europas etabliert Suppenküchen und Tafeln für Armenspeisung sowie Kleiderkammern als Dauereinrichtungen.
  • Deutschland produziert durch das mit Abstand niedrigste Rentenniveau in Europa massenhafte Altersarmut. (Dem deutschen Rentenniveau von 43% steht das durchschnittliche Rentenniveau von 70% in Europa und den OECD-Ländern, in einzelnen Ländern 80% und mehr gegenüber).
  • Die unteren 40% der Beschäftigten in Deutschland haben 2015 real weniger verdient als Mitte der 90-er Jahre und damit die geringsten Lohnzuwächse in Europa; damit übt Deutschland Druck auf andere EU-Länder zur Lohnsenkung aus.
  • Nirgendwo ist die Vermögensverteilung ungleicher als in Deutschland als „neoliberaler Musterknabe“ in Europa, wo die 10% reichsten Haushalte mehr als die Hälfte des gesamten Netto-Vermögens besitzen, die untere Hälfte nur 1 Prozent (Armuts-Reichtums-Bericht 2017).
  • In ganz Europa bleiben Arme arm und Reiche werden immer reicher.

2. Demokratischer Neustart – Die EU als Demokratische Union

Siehe hierzu auch Vorschläge im Positionspapier 11 von „Mehr Demokratie e.V.“ „Europa neu denken und gestalten - Vorschläge für eine Neubegründung der EU“.

  • Europa braucht als institutionelles Fundament eine neue EU-Verfassung von unten in einem beteiligungsorientierten und transparenten Verfassungsprozess über einen Europäischen Bürgerkonvent mit anschließender Volksabstimmung, angestoßen durch eine pro-europäische Bürgerbewegung (infolge fehlender Impulse dazu aus Regierung, Parteien und Parlamenten). Eine Grundrechte- und Sozialcharta mit rechtlicher Verbindlichkeit gehört dazu.
  • Vorausgehen sollte eine gemeinsame gesellschaftliche Leitbilddiskussion mittels Zukunftskonferenzen in ganz Europa, mit Rückbesinnung auf die unverfälschten europäischen Werte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (Solidarität) sowie auf das Primat der Politik über der Wirtschaft und auf die sozialen Rechten über den unternehmerischen Freiheiten.
  • In der bisher exekutiv-lastigen EU ist die demokratische Gewaltenteilung und die wesentlich verbesserte direkte Bürgerbeteiligung („Europäische Bürgerinitiative“) zu gewährlisten, um die Herrschaft der Exekutive mit ihrer Machtfülle zu bremsen und dem Volkssouverän sowie der Legislative den gebührenden demokratischen Einfluss zurückzugeben. Dazu gehört auch eine demokratische Legitimierung und Wahl der EU-Gremien (verkleinerte Kommission als parlamentarisch gewähltes Kollegialorgan, eine weitreichende Parlamentsreform und eine Veränderung und Verbesserung des europäischen Wahlrechtes).
  • Die legislativen Kernkompetenzen und Kontrollfunktionen des EU-Parlamentes mitsamt Initiativrecht und Haushaltsrecht sind zu stärken, europäische statt nationale Parteien zur Europawahl zuzulassen, die Gleichheit der Wählerstimmen zu gewährleisten und das das Wahlverfahren der Abgeordneten um Direktwahl statt nur Listenwahl zu erweitern. Mit Bonus-/Malus-Regelungen für Abgeordnetendiäten und Mandatsverteilung soll auf eine verbesserte Wahlbeteiligung bei Europa-Wahlen hingewirkt werden.
  • Die EU braucht wie alle föderalen Staaten eine zweite Parlamentskammer (Senat) anstelle des bisherigen Rates, mit direkt gewählten Vertretern der Nationen bzw. Regionen statt der bisherigen Regierungsvertreter im Rat und damit künftig eine klare Trennung statt Durchmischung von Legislative und Exekutive.
  • Die konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips (siehe auch Berliner Erklärung zum 50. Jubiläum der EU) mit der Delegation von Zuständigkeiten und Kompetenzen von oben nach unten (statt umgekehrt), auch im Sinne der Begrenzung von Macht und Kontrolle (statt umgekehrt), sowie klare Zuständigkeits- und Aufgabenabgrenzungen zwischen den einzelnen Ebenen sind unverzichtbar, damit auch ein Verzicht auf die staatliche Allzuständigkeit etwa in selbstverwalteten Bereichen von Kultur und Bildung oder zu demokratisierender Wirtschaft.
  • Ein „Europa der Regionen“ soll zur Verfasstheit der EU gehören. Im Sinne von Dezentralität und Subsidiarität anstatt Zentralstaatlichkeit des europäischen Staatsaufbaus sind die Kompetenzen der Kommunen und Regionen wegen ihrer Bürgernähe zu stärken und der Aufgaben- und Zuständigkeitskatalog der einzelnen föderalen Ebenen klar voneinander abzugrenzen, mit jeweils eigenen Steuereinnahmen und Haushaltsmitteln und demgemäß veränderten Kriterien der EU-Förderpolitik mit mehr Eigenverantwortlichkeit (mit dem Prinzip: Nach unten delegieren statt oben zentralisieren).
  • Die Ernennung der Richter für die dritte Gewalt in der EU (EuGH) muss künftig nach transparenten Kriterien du Verfahren und mit Vereidigung auf die EU-Verfassung erdfolgen, mit vorherige klarer Kompetenzabgrenzung zu den obersten Verfassungsgerichten der Mitgliedsstaaten.
  • Klare Transparenzregeln und wirksame Eingrenzung von Lobbyismus (mittels Lobbyregister, Korruptionsregeln auch für EU Beamte und Abgeordnete) sind ebenso notwendig wie die Beendigung der Geheimhaltungs- und Hinterzimmerpolitik und ein verfassungsmäßiges Bekenntnis zum Schutz der öffentlichen Daseinsvorsore vor Privatisierungen zur Gewährleistung der allgemeinen Menschenrechte. Private Interessen werden nicht länger mit öffentlichen Gemeinwohlinteressen gleichgesetzt.
  • Mit der Gründung europäischer Parteien, Gewerkschaften und Medien sollen die öffentlichen demokratischen Diskurse über europapolitische Fragen, Ziele und Aufgaben belebt werden und verbesserte demokratische Beteiligungsprozesse ermöglich werden. Dabei ist die durch Entflechtung von Staat und Wirtschaft und eine Ablösung der „marktkonformen Demokratie“ durch einen „demokratiekonformen Markt“ zu erstreben.
  • Das Europäische Demokratieverständnis orientiert sich konsequenter und glaubwürdiger als bisher an den allgemeinen Menschenrechten und gewährleistet auch einen weitgehenden Persönlichkeits- und Datenschutz, gemeinsame Sicherheitspolitik und Terrorabwehr sowie die gemeinsame Bekämpfung von Rechtspopulismus (einschl. Sanktionsmöglichkeiten für Staaten mit Grundrechtebeschränkungen oder Verfassungsverstößen wie etwa in Ungarn Polen, Rumänien etc.).

Anmerkungen:

  • Die EU erfüllt eigentlich nicht die Mindeststandards einer modernen Demokratie mit funktionierender Gewaltenteilung und Subsidiaritätsprinzip (als Schutz vor einem „vormundschaftlichen Superstaat“). Wäre die EU ein Staat als Beitrittskandidat, könnte sie selber nicht in die EU aufgenommen werden. Deshalb darf die EU (mit ihren 27 Mitgliedsstaaten) nicht einfach mit Europa gleichgesetzt werden.
  • Die EU stand einst für Fortschritt und steht jetzt für Rückschritt, zumindest aus der Sicht der vielen Verlierer und der konsequenten Verfechter von Demokratie und Freiheit. Sie erleben den Ausverkauf einer großen Idee durch viele Todsünden der EU. Das „Wozu“ des EU-Projektes ist ebenso verloren gegangen wie das „Wohin“?
  • Das Europa der EU ist in der Wahrnehmung der meisten Menschen von einem einst demokratisch verheißungsvollen Zukunftsprojekt zu einem bloßen Markt- und Wettbewerbsprojekt auf der Grundlage der neoliberalen Lissabon-Strategie geschrumpft, mit einflussreicher Dominanz der Finanzmärkte und großer Konzerne.
  • Wir brauchen aber ein Europa der Menschen statt ein Europa der Märkte, der Konzerne und Händler sowie der Staatsmänner und Kommissare – und zwar ein demokratisches Europa mit kultureller statt nur wirtschaftlicher Grundlage. Die EU bedroht mit ihren Demokratie-Defiziten den sozialen Frieden statt ihn zu fördern. „Doch nicht Staaten vereinigen wir, sondern Menschen“(Jean Monnet) – und die wollen eine demokratische und soziale Union.
  • Deshalb will nach dem geschaffenen europäischen „Supermarkt“ fast niemand auch noch einen vormundschaftlichen, zentralistischen und bürokratischen „Superstaat“ in Form eines Bundesstaates für 500 Mio. Menschen anstelle des bisherigen Staatenbundes.
  • Demokratie geht von unten nach oben und nicht von oben nach unten, so dass Aufgaben nach unten zu delegieren und untereinander klar abzugrenzen statt nach oben abzugeben sind (Subsidiaritätsprinzip), um so die demokratischen Einflussmöglichkeiten zu wahren. Deshalb braucht die EU einen demokratischen Neubeginn und eine Rückbesinnung auf die Idee eines „Europa der Regionen“ als ein vom Nationalstaatsgedanken befreites Demokratie- und Gestaltungsprinzip.

- Die Punkte 3. bis 9. sind in der Überarbeitung und folgen in Kürze -

Europa als Wirtschaftsunion

Abkehr von der konkurrenzorientierten Lissabon-Strategie – Hinwendung zur kooperativen gemeinwohlorientierten Wirtschaft

EU als Friedensunion (Nobelpreisträger)

Europa als Krisenmanager

Europa der Regionen (Subsidiarität)

Europa als kulturelles Projekt