24. März 2020
Wilhelm Neurohr:
Nach der Corona-Krise: „Weiter so“ - oder Paradigmenwechsel in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft?
Wie die Krise uns und unser Zusammenleben radikal und dauerhaft verändern wird
Die Corona-Krise hält derzeit die Welt in Atem – oder nimmt ihr den Atem. Begreifen wir die Pandemie als einen Weckruf für grundlegendes Umdenken und notwendige Verhaltensänderungen nach überstandener Krise? Selten passte der Weisheitsspruch von der „Krise als Chance“ treffender als bei der globalen Corona-Krise. Es wird danach nichts mehr so sein wie vorher. Deshalb ist das politische und wirtschaftliche Bestreben, danach alsbald wieder zum vorherigen „normalen“ Zustand möglichst unverändert zurückzukehren, zum Scheitern verurteilt.
Der Zukunftsgewinn wird trotz aller Einbußen ein ganz anderer sein als in den bisherigen Denkkategorien und Handlungsstrategien. Wenn nicht jetzt, wann dann sollen die sozialen und ökologischen Herausforderungen der Menschheit eine neue Richtung bekommen, die sie eigentlich schon lange vorher gebraucht hätten? Doch ohne inneren Wandel des Einzelnen gibt es keine äußeren Veränderungen und keine Entwicklung der Gesellschaft.
Darüber nachzusinnen, haben wir dank dem Virus hinreichend Zeit und Gelegenheit während der weltweit verordneten Quarantäne. Durch die erheblich eingeschränkten Sozialkontakte, die man nicht gleichwertig digitalisieren kann, wurden wir auf uns selbst zurückgeworfen und zugleich zum Blick auf die Weltgemeinschaft veranlasst.
„Wenn man bedenkt, dass sich die Persönlichkeit des Menschen durch soziale Interaktion entwickelt, dann müssen wir uns fragen, was die zunehmende Isolation in jedem Einzelnen bewirkt. Auf der Suche nach dem eigenen Lebenssinn erkennen wir, dass wir uns vor allem durch soziale Interaktion des Beitrags bewusst werden, den wir für die Gemeinschaft leisten können, indem wir Verständnis für die Bedürfnisse anderer entwickeln. Ein Leben in Isolation läuft daher fast immer Gefahr, seinen Sinn zu verlieren.“
Dr. Ha Vinh Tho (in „Der Glücksstandard“ 2019, zur praktischen Umsetzung des Bruttonationalglücks in Buthan)
Erzwungener Lernprozess der gesamten Gesellschaft als Befreiungsschlag
Mitten in ihrem pulsierenden Alltag wurden die Menschen unvermittelt mit den Fragen von Krankheit, Tod und Sterben konfrontiert und fragten: „Was ist der Mensch? Was sind wir füreinander?“ Diesen inneren Wandel in der Welt nach Corona beschreibt der Zukunftsforscher Matthias Horx in seiner „Corona-Rückwärtsprognose“: „Wie wir uns wundern werden, wenn die Krise vorbei ist“. (https://www.horx.com/48-die-welt-nach-corona/ ). Die angsteinflößende Seuche als „Seismograf des Sozialen, die Erschütterungen der Gesellschaft sichtbar macht“, wie es der Historiker Prof. Dr. Malte Thießen formulierte (https://www.lwl.org/pressemitteilungen/nr_mitteilung.php?urlID=50433). Die Menschen werden nach überstandener kollektiver Krankheitsbedrohung mit vielen Todesfällen „die existentielle Krise als Selbsterkenntnisgewinn und Befreiungsschlag“ erleben und damit einen (erzwungenen) Lernprozess der gesamten Gesellschaft auslösen. „Aus Krisen erwachsen auch immer neue Kräfte“ (Prof. Rita Süssmuth). Und „jede Krise ist ein Geschenk des Schicksals an die schaffenden Menschen“ (Schriftsteller Stefan Zweig).
Vorher noch Undenkbares wird (vorübergehend) Realität. In vielen Zusammenhängen keimt angesichts der Krise ungeahnte neue Solidarität und Verbundenheit auf. Selbstloser, risikobereiter Einsatz für die Mitmenschen ist erlebbar. Jeder Einzelne erlebt sich plötzlich nach der Grippe der Weltgesellschaft in seiner wechselseitigen Abhängigkeit vom Wohlergehen der gesamten Menschheit. Besonders dramatisch stellt sich die Situation etwa auf dem afrikanischen Kontinent dar, denn hier gilt: „Der Virus macht krank, aber Armut tötet“.
Das alte Wertesystem der im egoistischen Vorteilsdenken rücksichtslos miteinander konkurrierenden Staaten und Kontinente wird in Frage gestellt, (auch wenn es lange dauerte, bis wir in Europa unsere Krankenbetten und Atemmasken grenzüberschreitend auch für erkrankte Franzosen und Italiener öffneten, nachdem wir zuvor in nationalem Egoismus ein deutsches Menschenleben für vorrangiger erachteten). Um Kurt Tucholsky zu zitieren: „Eine Krise ist jener ungewisse Zustand, in dem sich etwas entscheiden soll: Tod oder Leben – Ja oder Nein.“
Eine kranke Gesellschaft sorgt sich jedoch in dieser Krise um ein überfordertes, weil „kaputtgespartes“ und größtenteils privatisiertes d. h. kommerzialisiertes Gesundheitssystem. Hierzu schreibt Werner Rügemer auf den „Nachdenkseiten“: „Die westlichen Regierungen, die EU und Investoren haben die Gesundheitssysteme auf Profite getrimmt, privatisiert, verknappt, zulasten des überforderten Personals und zulasten der Patienten selbst. Schon der „Normal“betrieb ist eine Katastrophe. Zudem machen heute nicht nur prekäre, sondern auch „normale“ Arbeitsverhältnisse zusätzlich krank – von Arbeitslosigkeit ganz abgesehen“. (https://www.nachdenkseiten.de/?p=59428).
Corona-Krise trifft die Ärmsten am Härtesten und verlockt die Wirtschaftsliberalen
Mit Sorge blicken sozial gesinnte Menschen auch auf mögliche gesellschaftliche Fehlentwicklungen: Die als apokalyptisches Ereignis empfundene Corona-Krise trifft in mehrfacher Hinsicht die Ärmsten in der Gesellschaft am Härtesten, wie Ulrich Schulte in der taz vom 24. März schreibt. (https://taz.de/Armut-in-der-Corona-Krise/!5670539/). Nicht nur die soziale Isolation trifft sie am meisten. Auch vom „Rettungspaket“ der Regierung profitieren sie am wenigsten (und werden den Schuldenabbau später mit der Kürzung des Sozial- und Gesundheitshaushaltes bezahlen müssen, wie nach der Finanzkrise), während es auch Profiteure von der Krise geben wird.
Vom milliardenschweren Corona-Hilfsprogramm im Gesamtvolumen von 600 Mrd. € fließt der Löwenanteil von 400 Mrd. € in den Stabilisierungsfond für Großunternehmen, mit zu befürchtenden Mitnahme-Effekten. Die dominante Wirtschaft erkennt in der Krise ihre Abhängigkeit vom wiedererlangten Primat der Politik, deren Handeln und Finanzhilfe sie einfordert. Niemand hat dabei die Bundesregierung aufgefordert, statt der nun erforderlichen hohen Neuverschuldung die Militärausgaben drastisch zu reduzieren und umzuschichten, nachdem auch das große NATO-Manöver „Defender 2020“ vor den Grenzen Russlands – das größte Manöver seit 25 Jahren - dem Corona-Virus zum Opfer fiel und abgebrochen werden musste, (zur Erleichterung der Friedensbewegung, obwohl sich die nukleare Rüstungsspirale weiter dreht).
Stattdessen werden die Wirtschaftsvertreter zu Forderungen verlockt, die für den Klimawandel zuvor eingeführten Steuern und Abgaben einstweilen zu reduzieren. Annemarie Botzki von Extinction Rebellion schreibt in einem Gastbeitrag für die taz vom 24. März 2020: „Liberale und die Wirtschaftslobby wittern die Chance, Umweltmaßnahmen, Arbeitsschutz und lästige CO-2-Steuern abzuschaffen. Die FDP hat vorgeschlagen, die Steuererhöhung für Flüge zu verschieben, CO-2-Preise auf Sprit, Heizöl und Erdgas auszusetzen und Umweltauflagen für Bauern zu stoppen, um die Wirtschaft zu entlasten. Stattdessen soll der Freihandel angekurbelt werden“.
Wohl kaum ist von den Wirtschaftliberalen in der Krise zu vernehmen, dass vor allem die Reichen zahlen sollen, etwa mit einer späteren Vermögensabgabe zum Staatsschuldenabbau.. Auch wenn die Wirtschaft in die Knie geht, so dürfe es aus der Sicht der Klimaschützer jedenfalls keine Finanzspritzen für Verschmutzer geben, denn die Klimakatastrophe und der Zusammenbruch der Ökosysteme seien das größte Gesundheitsrisiko der Welt.
Hedgefonds spekulieren auf Börsenverluste von Unternehmen infolge Pandemie
Vor diesem Hintergrund wird vielfach die politische Frage diskutiert, ob der Virus als Chance zu sehen ist – und zwar als Chance auch beim Kampf gegen den Neoliberalismus, der in der Krise die internationale Solidarität untergräbt – oder ob der Virus quasi „als Schutzschild für Raubzüge“ missbraucht wird. Schon wird die Frage nicht nach den vielen Verlieren, sondern nach dem „Gewinner“ der Krise gestellt: Wird es China, die USA oder Europa sein?
Die Corona-Pandemie führt laut Nachrichtenagentur „Bloomberg“ bereits zu einem Angriff der Spekulanten: Der größte Hedgefonds der Welt, «Bridgewater Associates», wettet 14 Milliarden US-Dollar auf den Niedergang von europäischen Unternehmen, dass deren Aktien – infolge der Ausbreitung des Corona-Virus – weiter sinken werden. Während die Welt zunehmend von der Corona-Pandemie betroffen ist, erlebt die Börse die größte Krise seit zehn Jahren. Spekulanten nutzen sie und die damit verbundenen Verwerfungen an den Märkten, um daraus Profit zu erwirtschaften. (https://www.infosperber.ch/Artikel/Politik/Corona-Pandemie-Angriff-der-Spekulanten). „Jede Krise produziert ihre Spekulanten und Profiteure“, behauptet Prof. Peter Cerwenka aus Wien. Und Prof. Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger formulierte es so: „Um jeden Krisenherd hocken Leute, die ihr Süppchen darauf kochen.“
Die Systemfrage liegt nach Meinung des Manager-Magazins auf dem Tisch. Und Gert Ewen Ungar von RT meint: „Wenn es gut läuft, könnte uns jetzt ein Virus von einer rigorosen Belagerung zwar nicht von Außerirdischen, aber von einer Ideologie befreien, indem es uns aufs deutlichste vor Augen führt, wie begrenzt und wenig hilfreich deren Instrumentarium und deren Implikationen sind, wenn es um tatsächliche Krisenbewältigung geht. (…) So wird uns die Corona-Krise wieder unmittelbar darauf stoßen, wie katastrophal falsch grundlegende Annahmen des Neoliberalismus sind.“ Nur Zyniker könnten jetzt den Neoliberalismus noch verteidigen. Immerhin hat die Pandemie zum Ende der unsäglichen Schuldenbremse und unsinnigen Sparpolitik geführt sowie zu einer Abschaffung der Kriterien des Maastricht-Vertrags. Doch Geld ist nicht alles.
Die Sorge um demokratische Freiheitsrechte in Krisenzeiten und danach
Die Menschen fügen sich im Vertrauen auf das Krisenmanagement willig der Einschränkung ihrer individuellen Persönlichkeits- und Freiheitsrechte mit Rücksicht auf die Gemeinschaft, allen Kritikern zum Trotz, die um die Demokratie besorgt sind. Sie befürchten eingeschränkte Grundrechte, die vielleicht nie wieder freigegeben werden. Heribert Prantl schreibt in seiner Kolumne in der Süddeutschen Zeitung: „Die Bekämpfung des Virus stellt die Menschen und das Recht unter Quarantäne. Aber auch die Not kennt ein Gebot - das Prinzip der Verhältnismäßigkeit“. Auch für die Not gebe es demokratischen Regeln. (https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-krise-recht-1.4851980?reduced=true).
Und der Zeithistoriker und Publizist René Schlott, resümiert: „Mit atemberaubender Geschwindigkeit und mit einer erschütternden Bereitwilligkeit seitens der Bevölkerung werden Rechte außer Kraft gesetzt, die in Jahrhunderten mühsam erkämpft worden sind: das Recht auf Versammlungsfreiheit, die Religionsfreiheit, das Recht auf Bildung, das Recht auf Freizügigkeit, die Freiheit von Lehre und Forschung, die Freiheit der Berufsausübung, die Gewerbefreiheit, die Reisefreiheit.“ (Zitiert bei Gabriele Muthesius: (https://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/200324-Gabriele-Muthesius-Die-Corona-Krise.pdf ).
Er schreibt weiter: „ Wenn man es nicht besser wüsste, ließe sich das Procedere der letzten Tage wie das Drehbuch einer rechtspopulistischen Machtübernahme lesen. [...] Es ist alarmierend, wie rasch Wissenschaft, Kunst und Kultur, Sport, ja sogar die Bildung der Kinder für verzichtbar erklärt werden. Nichts offenbart das wahre Gesicht unseres Gemeinwesens besser als die Tatsache, dass einzig Wirtschaft, Konsum und Börsen aufrechterhalten werden sollen, als sei dies der einzige Daseinszweck unserer fortschrittlich geglaubten Gemeinschaft. [...] Der Fatalismus, mit dem sämtliche Einschränkungen der offenen Gesellschaft hingenommen werden, ist besorgniserregend. [...] Was, wenn wir eines Morgens in einer Gesundheitsdiktatur aufwachen?“Oder in einer ganz anderen? In der sich ein Großteil der Bevölkerung wiederum einzurichten vermag, weil für ihn „gesorgt“ wird? Wird tatsächlich für alle gesorgt?
Corona als Vorwand für Außerkraftsetzen von Menschenrechten für Flüchtlinge
Am ärgsten trifft es in der Corona-Krise nebst den Obdachlosen vor allem die Flüchtlinge an der griechisch-türkischen Grenze und in den griechischen Lagern: Die Sorge um eine mögliche humanitäre Katastrophe durch das neuartige Corona-Virus hat viele Menschen solche real existierenden Notlagen vergessen lassen. Das Selbstmitleid über die Einschränkungen und Risiken während der Pandemie drängt das Mitleiden mit den noch ärger in ihren Lebensumständen Betroffenen beiseite. Nur noch wenige interessieren sich dafür.
Die Regierungen mit ihren Katastrophenstäben haben mit der Pandemie sogleich einen Vorwand gefunden, die Asyl- und Menschenrechte kurzerhand außer Kraft zu setzen. Wegen des Coronavirus haben die Behörden in Deutschland sogar nun auch die verbindlich zugesagte Aufnahme von minderjährigen Flüchtlingen in der EU ausgesetzt. Dabei brauchen die Geflüchteten dringend Schutz vor der Corona-Gefahr. Tausende Menschen kämpften ohnehin schon unter unhygienischen Bedingungen ums Überleben. Notwendig wären jetzt Maßnahmen, um zu verhindern, dass sich der Corona-Virus auch unter den Flüchtlingen ausbreitet.
Der aus dem Krisengebiet an der griechisch-türkischen Grenze berichtende Journalist Fabian Goldman schreibt: „Dabei bietet deren Lage alle Bedingungen, die ein entschlossenes Handeln in der Corona-Krise verlangt: Während auf der ganzen Welt Menschenansammlungen über 1000, 50 oder fünf Leuten verboten und das Einhalten von zwei Meter Mindestabstand gefordert wird, leben im Camp Pazarkule weiter 15.000 Menschen auf engstem Raum beieinander - unter katastrophalen humanitären Bedingungen und mit kaum medizinischer Versorgung. Doch auf Ankündigungen von zuständigen Politikern, die Grenzen zu öffnen, das Camp aufzulösen und die Menschen geordnet und dezentral unterzubringen, wartet man auch in der Corona-Krise vergebens. Stattdessen nutzen Politiker beiderseits des Grenzzauns den neuartigen Corona-Virus als Rechtfertigung um so weiter zu machen wie eh und je“. (https://www.neues-deutschland.de/artikel/1134377.flucht-und-migration-nach-europa-corona-und-das-leid-der-fluechtlinge.html).
Kommt nach Corona eine kooperative Solidarwirtschaft für das Gemeinwohl?
Werden wir nach der Krise eine erschreckende humanitäre Bilanz ziehen oder uns darauf besinnen, dass wir in einer globalen Schicksalsgemeinschaft alle voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind? „Aus den Augen des anderen schaue ich mich selber an“. Die Konsequenzen und Erfordernisse für das soziale und wirtschaftliche Zusammenleben und die ökologischen Naturgesetze werden doch mit der Krise allenthalben sichtbar.
Der Soziologe Aladin El-Mafaalani sagt ebenfalls voraus, dass die Gesellschaft nach dieser Krise nicht mehr dieselbe sein wird (taz vom 23. März 2020: https://taz.de/!5673071/).Er stellt die Frage: „Sind wir mit der Globalisierung zu weit gegangen oder nicht weit genug? (…) Müssten wir nicht global viel enger kooperieren? Eine Weltgesellschaft, die vom Macht- und Konkurrenzmodus auf Kooperation, Solidarität und Zusammenhalt umschaltet, wäre etwas Neues. Sie täte es nicht aus Altruismus, sondern weil es sein musste.“ Und er führt weiter aus: „Vielleicht sind es winzig kleine Viren, die uns zeigen, dass wir alle im selben Boot sitzen und von systematischer Kooperation abhängig sind. Vielleicht hilft diese Erfahrung auch für die Bewältigung der Klimakrise. Grundlegende Änderungen erscheinen plötzlich nicht mehr unrealistisch. Es wird in jedem Fall bei all diesen Fragen nicht mehr ohne Weiteres möglich sein zu sagen: geht nicht. Es geht sehr viel.“
Ähnliches schrieb ich selber zuvor am 21. März 2020 in einem kurzen Leserbrief an die Ruhr-Nachrichten (von der Redaktion nicht veröffentlicht): „Der Gastbeitrag „Die Welt nach Corona“ vom Zukunftsforscher Matthias Horx zeigt als Lichtblick auf, dass die Corona-Krise als Weckruf eine große Chance für die Menschheitszivilisation darstellt. Dadurch bekommt sogar das medizinische Testergebnis „positiv“ eine ganz andere Bedeutung, wie sich an den solidarischen Aktionen und Aufrufen „Gemeinsam statt einsam“ oder “Wir halten zusammen“ bereits zeigt. Doch dazu passt zukünftig nicht mehr unser globales Wirtschaftssystem, das auf Egoismus, Gier, Materialismus und Konkurrenz (sowie grenzenlosem Wachstum zu Lasten der Natur) aufgebaut ist, (beginnend bereits mit dem anerzogenen Wettbewerbsdenken in der Schule). Dies gipfelt in der Krise in egoistischen Hamsterkäufen und zeigt sich im nationalen Egoismus des „Amerika first“ oder in erstrebten Wettbewerbsvorteilen Deutschlands in Europa. Dies entspricht eigentlich gar nicht unserer menschlichen Natur als soziales Wesen, das sich nach Solidarität, Mitmenschlichkeit und Altruismus sehnt. Hoffentlich führt die Wirtschaftskrise infolge Corona zu einer künftig am Gemeinwohl orientierten solidarischen Wirtschaft zum Nutzen und Wohle aller in der globalen Schicksalsgemeinschaft, in der jeder auf jeden angewiesen ist“.
Die vergessenen Todesopfer durch Kriege und rücksichtsloses Wirtschaften
Winfried Wolf benennt am 20. März auf den „Nachdenkseiten“ einen Fakt, der während der Pandemie aus dem Blick zu geraten droht: „Einiges spricht dafür, dass das Elend und die Zahl der Getöteten, die mit der Wirtschaftskrise geschaffen werden, nochmals deutlich das übersteigt, was vom Corona-Virus erzeugt werden kann“. (https://www.nachdenkseiten.de/?p=59459). Die Frage, wie wir in Zukunft wirtschaften und die Menschen versorgen, stellt sich anlässlich der Pandemie umso nachdrücklicher. Dazu gehört auch eine ökologische Neuausrichtung unseres Wirtschaftens mit Blick auf Wachstumsgrenzen, Klimaveränderung, Insekten- und Artensterben, Waldsterben, Wassermangel, Ressourcenknappheit, Abfallaufkommen, Plastikverseuchung, Landwirtschaft und Tierhaltung, Ernährung usw. „Nach jeder Krise sollte der Unrat, der sich angesammelt hat, entsorgt werden“ (Franz Schmidberger, deutscher Publizist).
Über die vielen Todesopfer der Pandemie wurden die mehr als 380.000 Todesopfer seit Beginn des Syrienkrieges, darunter über 100.000 Zivilisten, vergessen (https://www.spiegel.de/politik/ausland/mehr-als-380-000-todesopfer-seit-beginn-des-syrienkonflikts-beobachtungsstelle-a-1303680.html), ebenso die 233.000 Todesopfer infolge des Jemen-Krieges (https://www.mena-watch.com/233-000-tote-im-jemenkrieg-bis-ende-2019/ ), die allesamt vermeidbar gewesen wären bei politischen statt militärischen Konfliktlösungen, würde man weltweit das gleiche Engagement an den Tag legen wie bei der Corona-Krisenbekämpfung zum Schutz menschlichen Lebens.
Mit den ökologischen Sünden haben wir uns die Seuchen selber zugetrieben
Eigentlich müssten wir uns bei den Viren bedanken, die wir ursächlich durch Zerstörung unserer Umwelt und der Tierwelt heimatlos gemacht haben und uns somit selbst die Seuchen zugetrieben haben. In der Frankfurter Rundschau erinnert Arno Widman in seiner kleinen „Kulturgeschichte der Seuchen“ daran, dass Bakterien, Viren, Pilze im Menschen leben, seit es ihn gibt. „Und sie haben uns zu dem gemacht, was wir sind“. Mikroben bestimmen unser Leben, denn ein Drittel der in unserem Blut zirkulierenden Stoffwechselwelt ist nicht menschlichen Ursprungs. https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/viren-bakterien-sind-teil-ihnen-13604619.html
Die heimatlosen Viren suchen sich neue Wirte und sind dabei auf uns Menschen gestoßen. Denn „aus Tierleid wird Menschenleid und „Tierschutz ist auch Menschenschutz“. Der Corona-Virus hat somit auch Auswirkungen auf den Artenschutz.
Der Ursprung der Corona-Epidemie im chinesischen Wuhan liegt wahrscheinlich auf Wildtiermärkten. (https://blog.wwf.de/corona-virus-tiere/). Dazu schreibt WWF auf seinem Blog: „Der genaue Ursprung des Virus ist noch unklar. ForscherInnen vermuten, dass das neue Virus, wie damals auch das SARS-Virus, von Fledermäusen über einen Zwischenwirt auf Menschen übertragen wurde. Beim derzeitigen Ausbruch sind Schlangen als Zwischenwirte im Verdacht. Eines ist aber sicher: Das Virus kann nun auch von Mensch zu Mensch übertragen werden,“ denn Corona-Virus-Infektionen kommen bei Menschen und bei Tieren vor. Einige Stränge sind zoonotisch. Das heißt, sie können von Tier auf Mensch übertragen werden“.
Laut WWF wird weiter wird davon ausgegangen, dass die Quelle des derzeitigen Ausbruchs von einem Fischmarkt der chinesischen Stadt Wuhan stammt, auf dem auch Wildtiere illegal verkauft wurden: „ Die Menschen auf dem Seafood-Markt in Wuhan kamen dort auch mit Wildtieren in Kontakt wie Fledermäuse, Schlangen, Enten, Wildkaninchen und Waschbären, die ebenfalls dort gehandelt werden. Die Tiere werden auf engstem Raum in Käfigen gehalten. Das ist nicht nur aus Tierschutzgründen bedenklich, sondern bietet auch ideale Bedingungen für Krankheitserreger, die sich etwa über Körpersekrete verbreiten. Viele von den Tieren, die auf den Märkten gehandelt werden, sind Wildtiere. Einige davon gelten als stark gefährdet.“
Auf der Homepage von WWF ist zu lesen: „Viele von uns haben ein Déjà-vu: 2003 brach in China das SARS-Coronavirus aus und tötete fast 800 Menschen. Der Ursprungsort war auch damals ein chinesischer Markt, der Überträger eine Schleichkatzenart. 17 Jahre später wird in China wieder wegen eines Coronavirus zunächst ein Markt geschlossen, das Land riegelt Millionenstädte ab. Inzwischen ist auch der Handel mit Wildtieren komplett untersagt“.
„Zunehmende Allergien und Epidemien treffen auf kranke Gesundheitssysteme“
Zu der Gesamtproblematik schreibt Werner Rügemer: „Eigentlich ist klar: Vor allem mit der neoliberalen Fleisch- und Agrarindustrie, mit auch weiteren globalen Produktions- und Lieferketten, mit dem häufigen Wechsel zwischen traditionell verfestigten ökologischen Räumen (Fauna, Flora, Wetter, Tiere, Ernährung, Medikamente) und dem Wechsel in andere ökologische Räume, gar auf anderen Kontinenten, nehmen Allergien und Epidemien zu. Das ist alles seit langem bekannt“. (https://www.nachdenkseiten.de/?p=59428)
Rügemer wird noch deutlicher in seiner berechtigten Kritik: „ Trotzdem trifft der neue SARS-Virus CoV-2/Covid-19 im Westen auf kranke Gesundheitssysteme. Sie haben nicht die notwendigen Reserven. Das System ist auf profitable Großkrankheiten und Operationen mit möglichst kurzen Krankenhausaufenthalten getrimmt. Schon für wiederkehrende Grippewellen, für Geburten – keine Reserven. So fehlt es auch für wiederkehrende Epidemien – oder solche, die es werden könnten – am Einfachsten, selbst am Billigsten: Atemmasken, Schutzkleidung und Test-Kits, die nur ein paar Euro kosten. Es stehen in den Krankenhäusern durchaus Intensivbetten herum mit Atemhilfen und einigen extrakorporalen Atemmaschinen. Aber das Personal, das auch qualifiziert und belastbar sein muss, ist zu knapp“.
Gesundheit ist ein Menschenrecht – auch außerhalb von Krisenzeiten
Werner Rügemer legt den Finger in die Wunde unseres Krankenhauswesens: „Schon der „Normal“betrieb ist eine gesundheitliche Katastrophe. Die Investoren-Lobby treibt die Schließung und Privatisierung von Krankenhäusern voran. Die immer größeren Häuser, zusammengefasst in immer größeren Konzernen wie Asklepios, Ameos, Rhön-Kliniken, Fresenius mit FMC und Helios werden technologisch aufgerüstet und personell abgerüstet.
(…) Man muss aber nicht glauben, dass solche Einsichten bei solchen Leuten zu wirklichen Konsequenzen führen. Beim Krisenmanagement der Bundesregierung ist davon nichts angekommen“. Demgegenüber hat Spanien die privaten Krankenhäuser vorübergehend verstaatlicht. Darum sei daran zu erinnern: „Gesundheit ist ein Menschenrecht!
Deshalb: Wenn man die Anfälligkeit gegen „Corona“ und andere Gefährdungen bekämpfen will, muss das ganze Gesundheitssystem demokratisiert werden. Auch Gesundheit und Gesundheitsversicherung sind Menschenrechte“.
Die tägliche Fixierung auf die steigende Zahl der vom Coronna-Virus Infizierten und Verstorbenen oder Geheilten lässt in Vergessenheit geraten, dass sich nach den veröffentlichten Zahlen des Robert-Koch-Instituts jährlich 500.000 bis 600.000 Menschen, also eine halbe Million, allein in Deutschland mit Krankenhauskeimen infizieren und bis zu 20.000 jährlich daran sterben (von Lungenentzündung bis Sepsis). (https://www.tagesschau.de/inland/infektionen-101.html). Dies wird öffentlich kaum noch zur Kenntnis genommen und führt weder zur Panik noch zu Gegenmaßnahmen. Nicht einmal ein Bruchteil der Aktivitäten und Unsummen, die nun zur Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Seuche aufgebracht werden, sind für die Verbesserung der hygienischen Situation in den deutschen Krankenhäusern zur Verminderung der dortigen fünfstelligen Sterberate vorgesehen – ein Skandal und ein allgegenwärtiger Grundrechts- und Menschenrechtsverstoß!-
Die Seuche des Vergessens und Verdrängens in der Gesundheitspolitik
Neben dem Massensterben infolge der Krankenhauskeime gibt es mit der jährlich fünfstelligen Zahl von Toten infolge von Abgasen und Feinstaub ein weiteres vernachlässigtes Problemfeld, das erst die erst die Deutsche Umwelthilfe auf die Tagesordnung gesetzt hat: „Allein in Deutschland sind jährlich ca. 47.000 vorzeitige Todesfälle, in der EU etwa 430.000 vorzeitige Todesfälle durch Feinstaub bedingte Krankheiten zu verzeichnen“. (https://www.duh.de/projekte/luftreinhaltung/). Von den zusätzlich im Durchschnitt 3.000 bis 4.000 Verkehrstoten jährlich auf deutschen Straßen (bei politischer Verweigerung einer Geschwindigkeitsbegrenzung) erst gar nicht zu reden. (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/185/umfrage/todesfaelle-im-strassenverkehr/).
Diese zusammen 50.000 Toten jährlich sollten in Relation zu den Todesopfern durch die Corona-Seuche nicht nur ins Verhältnis gesetzt werden, sondern ebenfalls zu intensiven Aktivitäten und finanziellen Aufwendungen zur Vermeidung führen, wenn der Gesundheitsschutz ernst genommen wird. Auch die jährlich 5000 bis 13.000 Arbeitsunfälle, davon ca. 500 mit Todesfolge jährlich sowie die über 1000 Drogentoten, sind ein Aufgabenfeld von Politik und Wirtschaft durch zu verbessernden Arbeitsschutz sowie durch Suchtprävention.
Schließlich müsste auch politisch und gesellschaftlich in den Blick genommen werden, warum ausgerechnet in unserem Wohlstandsland die psychosomatischen Erkrankungen, Depressionen, Stress, Schlafstörungen, Einsamkeit, aber auch Geldsorgen und Armutsfolgen zu der großen Zahl der jährlich 10.000 Selbstmorde führen (mehr als durch Drogen oder Verkehrsunfälle). Zudem verzeichnen wir jährlich 400 Mordopfer. (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/585/umfrage/selbstmordmethoden-in-deutschland-2006/). Es ist zu hoffen, dass der Corona-Virus die Sensibilität für die Gesundheit der Gesellschaft und der vielen Mitmenschen, für die Anleitung zur Stärkung ihrer Immunkräfte insgesamt sowie für den großen Handlungs-und Finanzierungsbedarf allgemein erhöht, sonst haben wir aus der Krise nichts gelernt. Die Pandemie sollte als ein Weckruf für ein komplettes Umdenken im Gesundheitswesen verstanden werden.
Wird die Coronna-Krise zu einem nachhaltigen Bewusstseinswandel führen?
Innovation und Zukunftsgestaltung beginnen mit Umdenken und Mitfühlen. Erinnert sei an den berühmten Ausspruch von Albert Einstein: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Und die „sozialen Kontakte kann man nicht digitalisieren“, wie Johannes B. Kerner als Infizierter nach seiner Quarantäne demütig bemerkte. (https://www.dewezet.de/kultur/boulevard_artikel,-johannes-b-kerner-ueber-die-quarantaene-_arid,2613375.html). Auch Politik und Gesellschaft leben vom direkten Gespräch. Die Digitalisierung als Allheimittel und „Zeitfresser“ trägt kaum zur Entschleunigung und zum Zeitgewinn bei. Ausgangssperren in Corona-Zeiten schlagen trotz „Home-Office“, „E-Learning“ und „Sozialer Netzwerke“ immer mehr Menschen aufs Gemüt.
Wenn die Krise aber erst überstanden ist, sagen italienische Experten voraus, wird es „eine wahre Explosion an Lebensfreude“ geben. Und hoffentlich auch des Wiederentdeckens der Naturverbundenheit und -abhängigkeit, so sei hier hinzugefügt. Der emeritierte 93-jährige italienische Professor Ferrarotti, der schon viele historische Epochen und Krisen durchlebt hat, sagte in einem ARD-Telefoninterview: „Ich glaube, wenn die Krise vorbei ist, werden wir eine enorme Wiederkehr von Lebensfreude und Lust am Wiederaufbau erleben. Ähnlich wie am Ende des Krieges wird es in ganz Europa eine unglaubliche Explosion an Lebensfreude geben." Richard von Weizsäcker sagte einmal: „Von den Chinesen können wir viel lernen. Sie haben für Krise und Chance das selbe Schriftzeichen.“
Der derzeitige Kampf gegen die Ausbreitung des Corona-Virus sei eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft - aber auch eine Chance: „Das wird eine grundlegende, positive Erfahrung von Leben sein, gemeinsam die Krise durchzustehen. Für Europa, und, ich würde sagen, für die gesamte Menschheit", sagt Prof. Ferrarotti. (https://www.tagesschau.de/ausland/italien-coronavirus-125.html ) „Krisen sind Weichenstellungen des Lebens. Nur der Tod kennt keine Krisen“, meint der Philosoph Andreas Tenzer. Und „auf dem Boden der Krisen wachsen oft regelrechte Riesen“, so formulierte es Prof. Michael Marie Jung als Führungskräftetrainer. „Der seelische Knackpunkt heißt Krise – der geistige heißt Lösung“, schreibt der Schweizer Aphoristiker Walter Fürst.
Krisen bringen Menschen zusammen und fördern die Solidarität
Krisenerfahrungen, sagt Ferrarotti, führten dazu, dass Gesellschaften enger zusammenrücken. Und dass sie aus dieser Phase neue Kraft schöpften - ungeachtet aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Auch Gianluca Castelnuovo, einer der bekanntesten Psychologen Italiens, schaut mitten in der Krise mit Zuversicht nach vorne: "Aus psychologischer Sicht wird danach eine große Lust da sein, wieder loszulegen. Zu arbeiten und zu feiern. Die zweite Jahreshälfte wird voll sein mit beruflichen Terminen, mit sozialen Ereignissen, mit Konzerten, mit der Lust auszugehen. Es wird diesen Sprungfeder-Effekt geben. Wir wollen dann in die Welt schreien, dass wir zurück sind nach diesem hässlichen Abenteuer."
Der Wert der Solidarität wird wiederentdeckt, so die große Hoffnung, und zwar auch mit Blick auf europäische und globale Zusammenarbeit. Aladin El-Mafaalani schreibt in der taz: „Menschen sind häufig nach extrem bedrohlichen Erkrankungen nicht mehr dieselben – sie stellen Fragen an sich selbst, an ihre Vorstellungen vom Richtigen und Guten, an ihre Werte und Prioritäten“.( https://taz.de/!5673071/ ). Alles, was nicht notwendig ist, wurde in der Krisenzeit eingestellt und Vieles, was wichtig erschein, ist es nicht. Der Blick für das Wesentliche wurde geschärft. Wir kamen in Kontakt mit unserem „wahren Selbst“.
Leider geraten mit dem verengten Blick auf die momentane Krisensituation durch die Pandemie auch wichtige Weltereignisse an den Rand des Bewusstseins: Klimakatastrophe, Flüchtlingsdrama, Terror, Kriegsschauplätze, Aufrüstungswahn und Waffenhandel, Rechtspopulismus, Diktaturen, Alters-und Kinderarmut, Insekten- und Artensterben, Wassermangel, Finanzkrise, , Reichtumsverteilung. Für alle Problembereiche bedarf es einer Neujustierung. Denn die Krise hat spürbar werden lassen: Die Menschheit steht in jeder Hinsicht am Abgrund, wenn sie sich jetzt nicht neu besinnt, nach dem Leitspruch. „Alles muss anders werden“. Also keinesfalls ein „Weiter so“!
Oder haben wir schon in diesem „apokalyptischen Jahrhundert“ die lauten Trompeten schlafend überhört, die von allen Seiten ertönten: Verheerende Feuersbrünste in Australien, Brasilien und Kalifornien, schwere Überschwemmungen und Hochwasserkatastrophen in Asien, Heuschreckenschwärme und Dürre in Ostafrika, zerstörerische Orkane und Hurrikans in allen Teilen der Welt, Erdbeben und Vulkanausbrüche in vielen Regionen der Erde, Schmelzen der Gletscher und Polkappen, Hitzeperioden aufgrund der dramatischen Erderwärmung – und nun auch noch die weltweite Seuche, die alle Menschen trifft. Was bedarf es noch alles, um endlich wach zu werden?
Die vielen Opfer der Seuchen nicht vergessen
Über die Chancen, die so eine Krise auch bedeuten kann, sollten die von den Risiken und Folgen Betroffenen nicht vergessen und die Corona-Krise nicht verharmlost werden, insbesondere nicht die hohe und noch weiter steigende Zahl der Todesopfer durch Corona, derer wir gedenken sollten. Sie haben dazu beigetragen, uns Überlebenden und vielleicht noch weiterhin Gefährdeten die Augen zu öffnen. Unser Mitgefühl gilt auch den vielen Senioren, die in den Altenheimen wochenlang vereinsamen wegen der Besuchsverbote, ebenso den Krankenhauspatienten und den sozialen Verlieren infolge der Krise.
Vielfach wurde in den Medien an eine globale Seuche vor nunmehr 102 Jahren erinnert, an die spanische Grippe: Es war eine der schlimmsten Grippeepidemien der Geschichte. Die Spanische Grippe tötete in nur wenigen Monaten Schätzungen zufolge zwischen 27 bis 50 Millionen Menschen. Manche Quellen sprechen sogar von noch mehr Toten. Der Ausbruch der Pandemie, die in drei Wellen vom Frühjahr 1918 bis 1920 weltweit über die Menschen hereinbrach, liegt nun über 100 Jahre zurück. Auch danach ging das Leben weiter. Es folgten sogar die „goldenen zwanziger Jahre“. Einer Art kollektivem Vergessen sei diese vielleicht größte Vernichtungswelle der Menschheitsgeschichte anheimgefallen, heißt es sogar in dem Buch „1918 – Die Welt im Fieber“ der Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney. (https://www.aerzteblatt.de/archiv/197155/Spanische-Grippe-Ein-Virus-Millionen-Tote ).
Dennoch sollten diese großen Menschheitskatastrophen nicht nur (verständliche) Ängste wachhalten, denn Angst ist in Krisenzeiten immer ein schlechter Ratgeber. Gefragt sind der Mut und die Tatkraft, mit der Krise umzugehen und nach der Krise wieder aufzustehen, denn man ist ja dabei nicht allein. Für das weitere Handeln sollte der Leitspruch gelten: „Solange kann niemand glücklich werden, als noch irgendwo auf der Welt ein Mensch Not, Leid und Elend erleidet.“
Die neue Zeitrechnung nach Corona
Die vielbeschworene globale Schicksalsgemeinschaft muss sich dauerhaft als solche erleben und empfinden und demgemäß solidarisch und verantwortungsbewusst sowie vorausschauend und nachhaltig handeln. Denn jetzt ist die Zeit der „Weltverbesserer“: Unvorstellbares muss mit neuen Prioritäten möglich werden für eine friedliche und gerechte, lebenswerte Welt. Das wäre für die Weltgesellschaft „etwas Neues mit Abschied vom Macht- und Konkurrenzdenken und Hinwendung zu Solidarität, Rücksichtnahme und Zusammenhalt“ (Aladin El-Mafaalani).
Mit den milliardenschweren Notpaketen allein ist es nicht getan, um vom Krisenmodus in den Gestaltungsmodus zu kommen. Die „größte Krise nach dem 2. Weltkrieg“ (laut Kanzlerin Merkel) sollte nach überstandener Krise auch zu einer neuen Zeitrechnung führen, nämlich zum Aufbruch in das neue Zeitalter nach Corona. Diese erfordert eine Orientierung nicht mehr an der dunklen Vergangenheit, sondern an einer hellen Zukunftsvision. Diese erfordert wiederum Wachheit und Offenheit in der Gegenwart, sozusagen tägliche Geistesgegenwart mit Stärkung der eigenen inneren Kräfte für die großen Herausforderungen der neuen Zeit: Von der inneren Verwandlung zum gesellschaftlichen Wandel. „Äußere Krisen bedeuten die große Chance, sich zu besinnen“, sagte der österreichische Psychiater Victor Frankl.
Änderung der persönlichen Lebensgestaltung
Hierbei ist vieles denkbar in der persönlichen Lebensgestaltung mit Besinnung auf sich selbst wie im gesellschaftlichen Engagement für die soziale Gemeinschaft. Zunächst zur Stärkung der eigenen Abwehrkräfte und zum Vorbeugen von Infektionen der Atemwege in der aktuellen Krisensituation und erst recht danach (siehe hierzu auch Empfehlungen des Gesundheitsexperten und Facharztes Frank Meyer in „Info3“, Buchautor: „Besser leben durch Selbstregulation“; https://info3-verlag.de/blog/corona-viren-was-jeder-zur-vorbeugung-tun-kann/): Die eigenen Immunkräfte stärken durch körperliche, seelische und geistige Aktivitäten (zugleich Immunisierung gegenüber Rechtspopulismus und überbordendem Egoismus). Achten auf Hygiene (dazu gehört auch Sozialhygiene). Nehmen wir uns mehr Zeit für Bildung und Fortbildung, für Kultur und Naturerlebnis und für reale Menschenbegegnung, damit auch für unser psychisches Wohlbefinden.
Zu empfehlen sind ferner eine gesunde tierarme Ernährung aus einer gesunden Landwirtschaft mit artgerechter Tierhaltung bei gleichzeitigem Verzicht auf schädliche Genussmittel im Übermaß (Alkohol, Drogen Zigaretten). Ratsam sind Naturheilmittel zur Infektabwehr sowie Atemübungen zur Stärkung der Lunge und des natürlichen Rhythmus, ausreichend Schlaf statt die Nacht zum Tage zu machen, wärmende Bäder und sonstige Gesundheitsförderung aus eigener Kraft im Sinne der Salutogenese (als individueller Entwicklungs- und Erhaltungsprozess von Gesundheit in ihren präventiven, komplexen und ganzheitlichen Wirkungszusammenhängen.) https://www.infodrog.ch/de/wissen/praeventionslexikon/salutogenese.html.
Wichtig ist aber auch die Vermeidung von krankmachender Arbeit und Terminhetze, von Reizüberflutungen und übermäßigem elektronischen Medienkonsum und -gebrauch als Entfremdung von sich selbst. (Denn die Digitalisierung führt dazu, dass die allgemeine Öffentlichkeit erodiert; siehe hierzu auch Interview mit dem Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz im Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunkkultur.de/andreas-reckwitz-die-gesellschaft-der-singularitaeten.990.de.html?dram:article_id=412701 ). Stattdessen regelmäßige Bewegung im Freien (das wurde bei der Quarantäne vermisst und sehr geschätzt) sowie Mitwirkung beim Schutz der Natur und Umwelt.
Empfehlenswert: Vitamin D mit Sonnenlicht aufnehmen, aber auch „inneres Licht“ und innere Wärme erzeugen etwa durch Kunst und Meditation, Spiritualität, Achtsamkeit und Sozialverhalten). Bei alledem nicht nur die eigene Gesunderhaltung und Selbstverwirklichung, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse als Motiv zu pflegen, sondern vor allem auch die Bedürfnisse der anderen in den Blick zu nehmen, das ist die große Herausforderung.
Wenn wir uns demgemäß selber verändern, dann verändert sich auch die Gesellschaft zum Positiven. Es geht um „die gegenseitige Abhängigkeit der Fürsorge für andere und der Fürsorge für den Planeten“ (Dr. Ha Vinh Tho in seinem Buch „Der Glücksstandard“ https://www.droemer-knaur.de/buch/dr-ha-vinh-tho-der-gluecksstandard-9783426292952 ). „Nahezu alle Krisen lassen sich bewältigen – vorausgesetzt wir schulen unsere innere Stärke und unser Selbstbewusstsein“, sagt auch der Ingenieur und Ökonom Siegfried Santura.
„Die Krise verändert unsere Gesellschaft radikal“
Für die „neue Zeit“ nach Coronna sind mit Blick auf die Erderwärmung und Umweltschäden auch Einschränkungen bei der extensiven Nutzung von PKW, Flugzeug und Kreuzfahrtsschiffen und das Vermeiden von Events des Massentourismus unabdingbar und vieles mehr an Verhaltensänderungen im individuellen und kollektiven Verhalten. Gefordert ist die Einmischung in die öffentlich-politischen Angelegenheiten und aktive Teilnahme an den demokratischen Diskursen und Entscheidungsprozessen, um die demokratischen Errungenschaften zu erhalten und auszubauen und für die Grundrechte und Menschenrechte einzutreten, ebenso für eine aktive Friedenspolitik in Gemeinschaft mit anderen – alles das ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr.
Die solidarische Hinwendung zu sozial Bedürftigen haben wir spätestens in der Corona-Krise gelernt und diese sollte auch danach zum Alltagsverhalten gehören, auch zur Stabilisierung der Gesellschaft mit neuem Gemeinschaftsgeist und gesteigerter Achtsamkeit. In den sozialen Begegnungen am anderen Menschen zu erwachen, soziale Kontakte zu pflegen statt sich zu isolieren und zu einer Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes mit dem Ziel einer sozialen Zukunft beizutragen, sollte das Bestreben sein, statt sich im Konkurrenz- und Wettbewerbsdenken auseinanderdividieren zu lassen.
Wir befinden uns eigentlich schon länger in einer Phase des politischen Paradigmenwechsels, die durch die Corona-Krise zum Durchbruch kommen könnte, wenn wir etwas nachhelfen. Wir können aus der Krise eine Menge lernen, und auch das Verhältnis von Gemeinschaft, Staat und Individuum verändert sich. Gäbe es keine Krisen, dann gäbe e auch keinen Fortschritt.
Ja, die Krise hat (unnötig) viele Todesopfer gefordert und manches Leid über Kranke und Betroffenen gebracht und es werden noch mehr darunter leiden. Darum geht es nicht nur um unser eigenes Überleben und Gesundbleiben, sondern um die ganze Menschengemeinschaft. Das sollte für uns Ansporn sein und somit die Krise als eine zu ergreifende große Chance zur Veränderung gesehen werden. Denn es liegt an uns, ob es eine verpasste Chance wird, wenn wir fälschlich das „Weiter so“ bevorzugen.
Die meisten Menschen ersehnen sich eine faire und gerechte, eine nachhaltige und friedliche Gesellschaft, in der ihre Grundbedürfnisse abgedeckt werden und in der die natürlichen Ressourcen geschont werden. Doch von alleine ändern sich die Verhältnisse nicht, auch nicht durch den hilflosen Blick auf die Krisenmanager, sondern wir sind die Akteure, nachdem wir gestärkt aus der Krise hervorgehen. „Fürchte weder Herzeleid noch Krisen, sie sind die Sollbruchstellen des Lebens“, ermuntert uns der Lyriker Thomas S. Lutter. Die Italienerin (Prähistorikerin) Romana Prinoth Fornwagner formulierte es so: „Sehe ich eine Krise als Zeit des Wandels, geht es mir schon ein bißchen besser.“
Doch wir sollten auch immer im Hinterkopf haben:„Wer den Sinn einer Krise nicht verstanden hat, bekommt eine zweite“ (Pascal Lachenmeier, Schweizer Jurist). „Und was kommt nach der nächsten Krise?- Die nächste“ (Prof. M. Jung).
Wilhelm Neurohr
„Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen“. (Max Frisch)