Wilhelm Neurohr

25-jähriges Bestehen des Seniorenbeirates Haltern

Festveranstaltung am Mittwoch, 13. September um 11 Uhr im Haus Teltrop, Lippramsdorf

Festrede Wilhelm Neurohr /iWiPo-Institut /Werkstatt für Demokratie

„Mehr Demokratie wagen –

Heraus aus der Zuschauerdemokratie: der mündige Bürger als Souverän

Sehr geehrte Damen und Herren,

Herr Bürgermeister, Frau Geipel, Herr Rohde, Frau Schnell,

für die Einladung zu Ihrem 25-jährigen Jubiläum darf ich mich herzlich bedanken - und Sie zugleich beglückwünschen zu Ihrem langjährigen ehrenamtlichen Engagement für das demokratische Gemeinwesen.

Der Seniorenbeirat selber ist ja ein sehr aktives demokratisches Beteiligungs- und Beratungsgremium in dieser Stadt - und hat mit viel Arbeit und Herzblut ein umfassendes Demokratieprojekt in der Stadt angestoßen.

Das Demokratieprojekt einer lebendigen Demokratie liegt Ihnen ja hier in Haltern besonders am Herzen, deshalb sind wir gerne mit unserer regionalen Demokratiewerkstatt an Ihrer Seite - die wir zusammen mit der VHS in Recklinghausen, der DGB-Region und dem gemeinnützigen Halterner iWiPo-Institut für Wissenschaft, politische Bildung und gesellschaftliche Praxis ins Leben gerufen haben. (Wir kooperieren überdies mit der Westfälischen Hochschule, dem KAB und der evang. Akademie des Kirchenkreises und anderen).

  • Der Seniorenbeirat vertritt ja auch eine wichtige Bevölkerungsgruppe, denn die Senioren über 60 stellen rund ein Drittel der Halterner Bevölkerung, fast 10.000 Bürger sind älter als 63 Jahre, bei einem Bevölkerungsdurchschnitt von 49 Jahren.
  • Derzeit sind bundesweit ein Drittel der Wahlberechtigten (nämlich 22 Mio. von 61 Mio.) Senioren über 60 Jahre, die sich überdurchschnittlich zu 80% an Wahlen beteiligen - und damit der Demokratie ein wahlentscheidendes Gewicht verleihen, wie der Bundeswahlleiter jüngst anmerkte.

Kommune als Ort der Basisdemokratie

Gerade die örtliche Ebene der kommunalen Selbstverwaltung als unterste staatliche Ebene, ist ja die bürgernahe Ausgangsbasis für jedwede demokratische Betätigung - die Kommune als Ort der Basisdemokratie, wo man sich untereinander kennt und begegnet – und nicht nur über digitale Netze:

  • In den über 12.000 Städten und Gemeinden in Deutschland sind mehrere Hunderttausend Menschen ehrenamtlich in den demokratischen Kommunalparlamenten engagiert, 20.000 allein in NRW.
  • Und immerhin noch 1,2 Mio. Menschen sind insg. in politischen Parteien organisiert, nachdem sich seit 1990 die Zahl der Parteimitglieder halbiert hat – aber aktuell eine fünfstellige Zahl junger Menschen unter 30 in die Parteien eingetreten sind..

Demokratie steht und fällt mit dem Bürgerengagement

Noch mehr Menschen sind zivilgesellschaftlich in Bürgerinitiativen und -vereinigungen außerhalb von Parteien engagiert. Denn „die Demokratie steht und fällt mit dem Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger“, so hat es der scheidende Bundestagspräsident Norbert Lammert vorige Woche ausgedrückt.

Über 7 Millionen Menschen sind zudem in den allerdings schrumpfenden Gewerkschaften engagiert, jeder fünfte Arbeitnehmer – denn Demokratie und Mitbestimmung als gesamtgesellschaftliches Anliegen kann und soll ja nicht an den Werkstoren halt machen. Und Demokratie muss bereits in den Schulen erlernt und geübt werden, beginnend bei der Schülermitverwaltung.

Dennoch warnte der schon zitierte Bundestagspräsident Norbert Lammert bei seiner Abschiedsrede vor einem „Ausbluten der Demokratie und vor einem allzu laxen Umgang mit dem Grundgetz“.

Grundgesetz bewahren und verinnerlichen

Denn unsere Verfassung wurde bisher 62 mal geändert, um es für die jeweiligen tagespolitischen Themen passend zu machen. Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes hatten eigentlich die Vorstellung, dass sich die Tagespolitik gefälligst am Grundgetz zu orientieren habe und nicht umgekehrt.

Und auch unser Bundesverfassungsgericht hat in zahlreichen Fällen die Unvereinbarkeit von Gesetzesregelungen mit dem Grundgesetz beanstandet.

Vor 68 Jahren wurden ja in Deutschland mit unserem vorbildlichen Grundgesetz die Grundlagen für einen demokratischen Neubeginn gelegt – es hat uns gerade als ältere Generation (60 plus) ein Leben lang begleitet – Und es ist uns gelungen, über 60 Jahre lang Rechtsradikale aus dem Bundestag fernzuhalten (auch wenn zu Beginn der fünfziger Jahre noch einige alte Nazis sich in Partei und Regierungsämtern tummelten).

Unserer Generation wurde folgendes mit auf den Weg gegeben: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.

Das Parlament als Herzkammer der Demokratie

Deshalb die Mahnung des Bundestagspräsidenten an das Parlament als „Herzkammer der Demokratie“. Vor der anstehenden Bundestagswahl in 10 Tagen wird in den Medien oft übersehen, dass wir mit unserer Erst- und Zweitstimme ausschließlich über die Zusammensetzung des Parlamentes als Legislative, also über unsere Volksvertreter im Parlament abstimmen - und nicht über die Regierung oder die Kanzlerkandidaten als künftigen Regierungschef. Diese werden laut Grundgesetz vom Bundestag gewählt und vom Bundespräsidenten ernannt.

Das ist nicht nur eine Formalie, sondern fundamental für die parlamentarische Demokratie mit Gewaltenteilung, die ja keine Präsidialdemokratie mit Direktwahl ist.

Norbert Lammert wollte demgemäß darauf hinweisen, dass unser Parlament als gesetzgebende Gewalt und als Zentrum der politischen Debatten, eigentlich eine wichtigere demokratischere Funktion hat als die Regierung - als bloß ausführendes Exekutiv-Organ. Deshalb stehen der Bundestagspräsident und der Bundesratspräsident in der Rangordnung der Staatsämter gleich nach dem Bundespräsidenten noch über der Bundeskanzlerin.

Das wird im Wahlkampf oft übersehen durch die einseitige Fixierung auf das Kanzleramt oder das ablenkende Medienspektakel beim Kanzlerduell.

Höhen und Tiefen der demokratischen Entwicklung

Nun hat in den fast 70 Jahren unserer Nachkriegsrepublik die demokratische Entwicklung viele Höhen und Tiefen durchlebt.

Aber leider auch unterschiedliche Wertschätzung und so manche Krise und Gefährdung, so dass es die Errungenschaften der Demokratie vielfach zu verteidigen und auszubauen gilt.

Bundespräsident Steinmeier sagte vor 5 Tagen beim Bürgerfest am Schloss Bellevue: „Demokratie ist nicht vom Himmel gefallen. Sie ist über Generationen erkämpft worden, Und sie kann wieder verloren gehen, wenn sich niemand darum kümmert.“

Der Seniorenbeirat ist ja gottlob so ein Kümmerer.

Der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann drückte es so aus: „Wir müssen immer am Werk der Demokratie weiterbauen, uns vereinbaren, weiterkommen, innovativ und offen sein.“

Derzeit erleben wir ja in unserem Land und europaweit sowie bis in die USA den zunehmenden Rechtspopulismus - als Belastungsprobe für unsere Demokratie. Um uns herum entwickeln sich zudem immer mehr Staaten weltweit zu Autokratien oder Diktaturen, so dass die demokratisch verfassten Staaten in der Weltgemeinschaft allmählich in die Minderheit geraten. Hier greift der Begriff von der „wehrhaften Demokratie“, wo immer sie gefährdet ist auf allen Ebenen.

Demokratiedefizite der EU beheben

Und mit Bezug auf die Europäische Union wird ja von vielen Kritikern als Demokratiedefizit bemängelt, dass unsere Nationalparlamente immer mehr Entscheidungsbefugnisse an die bürgerferne EU abtreten müssen, so dass ca. 80% der Gesetzesvorlagen im Bundestag aus dem bloßen Nachvollzug von EU-Vorgaben bestehen, ohne öffentlichen Diskurs im Lande, mit Auswirkungen auch für Städte und Gemeinden – und damit der Bürger als Souverän außen vor ist.

Hier besteht also grundlegender demokratischer Reformbedarf, wenn uns an der Zukunft unserer friedenssichernden Europäischen Gemeinschaft gelegen ist. Unter anderem gibt es Vorschläge zur Einrichtung eine 2. Kammer als Länderkammer

Die Kritik an der Hinterzimmerpolitik der EU mit ihren nicht gewählten Kommissaren hat sich etwa bei der Diskussion um die umstrittenen Freihandelsverträge jüngst zugespitzt, als über 300.000 Menschen in Berlin demonstrierten, 2000 Kommunalparlamente in Deutschland und Europa Beschlüsse dagegen fassten – und europaweit über 3 Mio. Unterschriften für eine europäisches Bürgerbegehren gesammelt wurden.

Gefahren für Demokratie im Inneren durch eigenes Fehlverhalten

Gefahren drohen unserer Demokratie aber nicht zuletzt auch im Inneren durch eigenes Fehlverhalten. Ich nenne gleich noch die aufrüttelnden Zahlen der Demoskopen zur sinkenden Wahlbeteiligung, zur zunehmenden Politik- und Parteiverdrossenheit oder zur nicht repräsentativen Zusammensetzung unserer Parlamente, aber auch zum zunehmenden Lobbyismus, der das Primat der Politik in Frage stellt.

Und wir brauchen noch mehr Transparenz, etwa bei den Parteispenden und in den Entscheidungsprozessen, um dem Misstrauen in der Bevölkerung zu begegnen.

Denn negative Schlagzeilen haben uns jüngst aufgerüttelt beim VW-Skandal oder Diesel-Skandal, wo auch die demokratischen Kontrollfunktionen versagt haben. Oder denken wir an den Wechsel einer inzwischen dreistelligen Zahl von Politikern in die Wirtschaft, oft ohne Karenzzeit, in die Finanzwelt oder zu großen Lobbyverbänden, aber auch an die oft hochbezahlten Nebentätigkeiten einer dreistelligen Zahl von Abgeordneten im Bundestag und Europaparlament mit teilweise über 6-stelligen Summen im Jahr.

Laut Bundestagsverwaltung beziehen zwischen 55% und 68% aller Bundestagabgeordneten gewinnbringende Nebeneinkünfte zu ihrem Mandat.

Und 200 Europa-Abgeordnete haben nebenbei Beraterverträge in der Wirtschaft

Oder denken wir an die jüngsten Schlagzeilen über den Wechsel von Altkanzler Schröder in den Aufsichtsrat des russischen Gaskonzerns Rosneft und zuvor als Berater bei der Rothschild-Bank. Oder an die Schlagzeilen über umstrittene Zusatzeinkünfte des Ex-Bundespräsidenten Wulff.

Oder der Wechsel des EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso zu Goldman-Sachs, ohne Karenzzeit und gegen die Ethik-Richtlinien der EU, (wofür ihn sogar sein Nachfolger Claude Juncker rügte).

Ihm folgten fast alle übrigen ausgeschiedenen EU-Kommissare in die Wirtschaft, in Interessenkollision zu ihren früheren Zuständigkeitsbereichen. Und immer mal wieder Schlagzeilen über Korruptionsfälle und dergleichen.

Politik- und Parteiverdrossenheit entgegenwirken

Alles das fördert natürlich die Partei- und Politikverdrossenheit und den Rechtspopulismus ebenso wie die Tatsache, dass unterhalb der Mittelschicht Millionen Menschen mit Kindern schon Jahrzehnte dauerhaft zu den Armutsverlieren oder prekär Beschäftigten gehören, denen in einer Demokratie eine soziale Zukunftsperspektive eröffnet werden muss, wenn sie sich nicht von der demokratischen Gesellschaft abwenden sollen als Nichtwähler oder Rechtswähler. Und die künftigen Senioren sorgen sich vor etwaigen Armutsrenten.

Und je mehr Menschen heutzutage sich mit mehreren Jobs um ein auskömmliches Einkommen für ihre Familie bemühen müssen, umso weniger Zeit haben sie für ehrenamtliches oder parteipolitisches Engagement für das Gemeinwohl. Und sie zweifeln dann am Funktionieren der Demokratie mit ihrem grundgesetzlichen Sozialstaatsgebot.

Politik darf deshalb nicht nur für die Bürger, sondern muss mit den Bürgern gemacht werden. Und der Einzelne muss seine individuelle Verantwortung wahrnehmen.

Deshalb hatte ich als Vortragstitel das Motto gewählt: „Mehr Demokratie wagen – heraus aus der Zuschauerdemokratie: Der mündige Bürger als Souverän“.

Wahlverhalten der älteren und jüngeren Generation

Schauen wir deshalb anhand konkreter Zahlen auf das Wahlverhalten der älteren und jüngeren Generation, auf das Engagement der Wahlberechtigten in politischen Parteien sowie auf die Haltung der Bevölkerung zu unserer parlamentarischen Demokratie:

  • So hat zum Beispiel das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap ermittelt, dass bei der letzten Bundestagswahl zwar die 60 bis 70 jährigen sich vorbildlich zu 80% an den Wahlen beteiligt haben, wie eingangs gesagt
  • während die Wahlbeteiligung bei den 21-25 jährigen Jungwählern nur 60% betrug oder 62,3% bei den unter 30-jährigen.
  • Bei der Bundestagswahl 1972 hatten wir damals noch eine Wahlbeteiligung von insgesamt 91,1%!

Die Partei der Nichtwähler

Angesichts einer Wahlbeteiligung von insgesamt rund 71% bei den letzten beiden Bundestagswahlen gehört also fast ein Drittel der Wahlberechtigten zur großen Partei der Nichtwähler, die keine Stimme abgegeben haben, sozusagen die zweitgrößte Partei.

  • Bei der diesjährigen Landtagswahl in NRW gingen nur 65% zur Wahl, in der Wahlperiode zuvor sogar nur 59%.
  • Bei der Kommunalwahl in Haltern 2014 lag die Wahlbeteiligung bei gerade mal 60%, also 40% Nichtwähler in der Stadt.
  • Und an der letzten Europawahl 2014 beteiligten sich bundesweit sogar nur 43% an der Wahl, die Nichtwähler stellten also mit fast 60% die absolute Mehrheit. Damit geraten die Gewählten in eine politische Legitimationskrise.

Die Nichtwähler machen sich offenbar die Aussage eines Fernseh-Kabarretisten zu eigen, der sagte: „Wenn ich bei der Wahl meine Stimme abgebe, dann ist sie ja weg – und ich bin anschließend stumm“.

Der bekannte Unternehmer Götz Werner von der Drogeriemarktkette dm drückte es in der Öffentlichkeit so aus, ich zitiere: „Die Tatsache, dass die Bürger alle 4 Jahre wählen und die Politiker dann doch das tun, was sie wollen, kann auf Dauer nicht funktionieren“. Vielleicht ist sein harter Vorwurf unberechtigt, aber offenbar teilen viele Wählerinnen und Wähler seine kritische Einschätzung.

Politische Stimmung in Deutschland

Doch alleine die durchaus besorgniserregenden Zahlen zur stetig sinkenden Wahlbeteiligung sagen noch nicht viel aus über die Motivation und Beweggründe. Deshalb hier ein Blick auf die Motivforschung aus der dimap-Umfrage von 2016 zur politischen Stimmung in Deutschland:

  • Danach fühlen sich mit 48% weniger als die Hälfte der Deutschen durch die regierenden Politiker repräsentiert (also 52% nicht…).
  • 31% sind nicht zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie (in den neuen Bundesländern sogar 41% Unzufriedene).
  • 64% äußerten wenig Vertrauen in die Parteien. Folglich sind überhaupt nur unter 3% der Wahlberechtigten als Mitglieder in Parteien insgesamt organisiert; 97% sind also nicht zu einem parteipolitischen Engagement bereit.
  • Das Durchschnittsalter der Parteimitglieder lag Ende 2016 bei den beiden großen Volksparteien CDU und SPD bei 60 Jahren, bei den kleineren übrigen Parteien zwischen 50 und 60 Jahren.

Zwar scheint der anhaltende Mitgliederschwund der überalterten Parteien momentan etwas gebremst und es treten in allen Parteien zunehmend wieder junge Menschen unter 30 erfreulicherweise zu Tausenden ein, wie anfangs erwähnt. Aber eine wirkliche Trendumkehr ist noch nicht in Sicht.

  • Auch der Frauenanteil in den großen Parteien bewegt sich insgesamt nur zwischen 20 bis 30%, bei den kleinen Oppositionsparteien immerhin 37-38%.

Schieflage bei der repräsentativen Demokratie

Bekanntlich hatten unsere Väter und Mütter des Grundgesetzes das Ideal einer repräsentativen Demokratie vor Augen, d. h. die personelle Zusammensetzung der Parlamente sollte also möglichst ein Spiegelbild der gesamten Bevölkerung sein.

Auch davon sind wir weiter denn je entfernt, wie das Institut Allensbach ermittelt hat. Es ermittelte eine schleichende Verzerrung und Schieflage bei der Repräsentation:

  • Obwohl das Durchschnittsalter der Abgeordneten insgesamt von 49 Jahren halbwegs repräsentativ ist, sind 137 Bundestagsabgeordnete über 65 Jahre alt
  • Bei den berufsgruppen jedoch dominieren Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes und der Gewerkschaften und Verbände sowie Juristen zu 80% das Parlament.
  • Es dominieren im engeren Sinne Rechtsanwälte, Richter und Dienstleistungsberufe zu 1/6 im Bundestag und in den Landesparlamenten. Überrepräsentiert sind auch Selbständige und Freiberufler.

Berufspolitiker und Akademiker statt Bürgervertreter

Immer mehr Bewerber oder Nachwuchspolitiker für den Bundestag rekrutieren sich aus den Mitarbeitern der politischen Apparate, also wissenschaftliche Mitarbeiter oder Büroleiter der Abgeordnetenbüros und Parteibüros und der Ministerien.

Bei der Hälfte der Neuzugänge für den Bundestag handelt es also um hauptberufliche Mitarbeiter von Politikern, somit selber um Berufspolitiker und damit um eine geschlossene Gesellschaft.

  • Die überwiegende Mehrheit der Bundestagsabgeordneten, nämlich 600 von 631, hat einen Hochschulabschluss. Das sind 98,5% gegenüber nur 6,8% Hochschulabsolventen in der Bevölkerung (oder 17-20% unter den Erwerbstätigen).

Sie spiegeln also nicht die Bevölkerung, sondern die gehobenen Schichten.

Laut einer Befragung der Hans-Böckler-Stiftung gaben 70% der befragten Bürger an: „Die führenden Leute in Politik und Medien leben in ihrer eigenen Welt.“

  • Nur 7 Handwerker befanden sich im letzten Bundestag. Arbeiter sind im Bundestag überhaupt nicht vertreten. Und überhaupt keine Arbeitslosen, Rentner, Hausfrauen oder alleinerziehende Mütter.
  • Mehr als 1/3 der Bevölkerung ist somit in den Parlamenten überhaupt nicht vertreten. Und mit 36,5% sind auch nur 1/3 Frauen unter den Abgeordneten.

Beobachter sehen deshalb die Gefahr, dass die Abgeordneten zu sehr die eigenen Interessen ihrer sozialen Schicht vertreten als eine Mit-Ursache für die ungelösten sozialen Probleme mit der zunehmende Armuts-Reichtums-Schere - und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit ihrem Repräsentanten, die man für abgehoben hält.

Zusammensetzung der Stadträte

Ähnliche Trends sind übrigens auch in den Stadträten feststellbar, wo ebenfalls immer mehr Akademiker vor allem auch bei jüngeren Altersgruppen vertreten sind: Unterrepräsentiert sind hier, Studenten und Schüler, Seiteneinsteiger und generell Mandatsträger zwischen 30 und 40 Jahren, so hat das Kommunalministerium NRW festgestellt.

Aber vor Ort gibt es übrigens noch viel Idealismus: Denn die meisten verzichten hier auf Verdienstausfall-Entschädigung und berufliche Freistellung, obwohl sie durchschnittlich über 30 Stunden Freizeit im Monat für ihre Ratstätigkeit aufwenden.

  • Der typische kommunale Mandatsträger in NRW ist über 55 Jahre alt, männlich und hoch gebildet, so konnten wir vor 2 Wochen in der Halterner Zeitung lesen.
  • Und Halterns Stadtrat ist im Schnitt 10 Jahre älter als die Bevölkerung. Nur 5 Ratsvertreter sind jünger als 40 Jahre.
  • Ein Fünftel der Halterner Ratsvertreter sind Lehrer, gefolgt von der zweitgrößten Berufsgruppe, den Ingenieuren.

Um mehr Repräsentativität in der Zusammensetzung der Parlamente auf den verschiedenen Ebenen zu erreichen, müssten vielleicht die Wahlberechtigten schon im Vorfeld intensiver und frühzeitiger bei der Kandidatenauswahl und -aufstellung der Parteien beteiligt werden (z.B. über das meist ungenutzte Instrument der Wahlkreiskonferenzen)..

Demokratische Vertrauenskrise

Die Vertrauensverluste in der Bevölkerung gehen jedoch über die Parteien und Politiker hinaus: Denn auch das Vertrauen in die demokratischen Institutionen ist dramatisch gesunken:

  • 43% äußerten wenig Vertrauen in den Bundestag,
  • 42% wenig Vertrauen in die Regierung
  • und 45% auch wenig Vertrauen in die Medien.

Unsere Demokratie ist also bei den Bundesbürgern insgesamt in einer erheblichen Vertrauenskrise.

Und 9-10% der Menschen haben nach einer Untersuchung der Freien Universität Berlin eine rechtsradikale Einstellung.

Veränderte politische Kultur und fehlende Diskurse

Nun sind ja die Parteien laut Grundgetz lediglich Mitwirkende bei der politischen Meinungs- und Willensbildung, sind also nicht alleinige Träger des politischen Diskurses, der sich überdies immer mehr in die elektronischen Medien verlagert.

Zeitungen und Fernsehen sind gerade bei vielen Jugendlichen als politische Informationsmedien out.

Die Informations- und Diskussionskultur ist im digitalen Zeitalter also in einem enormen Wandel und wird sich hoffentlich nicht nur auf Facebook und Twitter anonym mit wenigen emotionalen Zeilen reduzieren…

Die öffentlichen politischen Diskurse finden nicht mehr so statt wie früher, sie finden teilweise gar nicht mehr ausreichend statt oder nur noch in Talkshows und sozialen Netzwerken - und müssten wiederbelebt werden. (Das ist auch ein Kernanliegen unseres Halterner iWiPo-Institutes).

Übrigens liegt das Durchschnittsalter der Zuschauer von politischen Talkshows auch bei 60 plus, wie die öffentlich-rechtlichen Sender ernüchtert feststellten…

Demokratische Errungenschaften verteidigen und ausbauen

Insgesamt haben wir erkannt: Die demokratischen Errungenschaften sind nicht etwas Selbstverständliches und Beständiges, sondern sie müssen immer wieder aufs neue verteidigt, verbessert und weiter entwickelt werden - Demokratie muss also ständig gelebt werden, aber auch fortentwickelt werden. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Demokratie!

Und wir brauchen wieder eine vielfältigere Medienlandschaft nach jahrzehntelangen Pressekonzentrationen und Zeitungsserben, statt Einflussnahme von Zeitungsverlegern über Regierungsämter, wie in NRW. Es entwickelt sich längst eine unübersehbare Vielfalt an online-Medien, deren Seriosität nicht immer überprüfbar ist.

Deshalb müssen wir uns im Rahmen der demokratischen Gewaltenteilung vielstärker auf die vierte Gewalt besinnen, also neben Legislative, Exekutive und Judikative auch die „Konsultative“. Letzteres sind die Bürgerinnen und Bürger als Souverän sowie die Medien - die für ein Höchstmaß an Öffentlichkeit, Transparenz und Beteiligung sorgen müssen.

Elemente der direkten Demokratie stärken

Demokratie beinhaltet dabei eine Hol- und Bringeschuld.

Sich einzumischen, herauszukommen aus der Zuschauerdemokratie ist das Gebot der Stunde. Und dazu gehören auch Elemente der direkten Demokratie, der Plebiszite, wie sie in Länder- und Kommunalverfassungen verankert sind.

Denn im Grundgesetz Art. 20 heiß es: Die vom Volk ausgehende Staatsgewalt wird nicht nur durch Wahlen, sondern auch durch Abstimmungen ausgeübt.

Demokratie braucht Streitkultur sowie Konflikt- und Kritikfähigkeit

Das Wichtigste zum Schluss: Demokratie ist keine bloße Konsens- und Harmonie-Veranstaltung, sondern äußerst anstrengend, unbequem und zeitraubend: Denn Demokratie funktioniert nur mit einer niveauvollen Debattenkultur, mit einer ausgeprägten Streitkultur und mit unverzichtbarer Konflitkfähigkeit und Kritikfähigkeit – denn Kritik, wenn sie konstruktiv ist, gilt als Motor des Fortschritts.

Demokratie lebt von Kritik und Opposition, von Pluralität und Alternativen – und von Respektierung anderer Meinungen und kritischer Minderheiten -

denn oftmals sind es diese, die eine fortschrittliche Trendwende gegen den allgemeinen Meinungsstrom anstoßen.

„Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“

Ich schließe mit einem Zitat von Michail Gorbatschow, der mit Glasnost und Perestroika (also mit Offenheit und Umgestaltung) die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht hat. „Wir brauchen die Demokratie, wie die Luft zum Atmen“ sagte er.

In diesem Sinne darf ich den Seniorenbeirat einen langen Atem wünschen und ihn ermuntern, hartnäckig am Ball zu bleiben bei seinem vorbildlichen und fortschreitenden Demokratieprojekt hier in Haltern. Vielen Dank.

Wilhelm Neurohr