Wilhelm Neurohr

30. April 2022:

"Menschenrechte und Menschenwürde sind unteilbar" - Mahnwache gegen die Ungleichbehandlung von Flüchtlingen

„Menschenrechte und Menschenwürde sind unteilbar, sie erfordern Gleichbehandlung aller Geflüchteten“. Mit dieser Botschaft rufen der Asylkreis und das Halterner Forum sowie der Verein VITUS mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingssituation und -unterbringung zur Teilnahme an einer Mahnwache mit Statements vor der Landtagswahl auf: Am Samstag, dem 30. April ab 11 Uhr soll mit Flüchtlingshelfern und Unterstützern aus der Zivilgesellschaft, den Kirchen, von Pax Christi und der Seebrücke auf dem Halterner Marktplatz vor der Sixtuskirche eine eindrucksvolle Mahnwache abgehalten werden, musikalisch begleitet von der Waltroper Band „Walthorpes“. (Siehe auch den Bericht im Lokalkompass v. 15.4.2022 sowie die Veranstaltunghinweise).

Vorausgegangen sind bereits in den letzten Monaten von den Halterner Initiatoren organisierte Mahnwachen in den benachbarten Städten Recklinghausen, Marl, Dorsten und Datteln, um das Problembewusstsein für die unterschiedliche Behandlung von Flüchtlingen in Gesprächen mit der Bevölkerung zu stärken. Als aktive Unterstützer des Halterner Ukraine-Netzwerkes begrüßen die Veranstalter die großzügige Aufnahme und Behandlung der ukrainischen Kriegsflüchtlinge.

Demgegenüber verurteilen sie die nach ihrer Meinung „menschenunwürdige Behandlung der übrigen Flüchtlinge etwa aus Syrien, Afghanistan, Afrika und den anderen Krisenregionen, die teilweise ebenso traumatisiert sind und eklatant benachteiligt werden.“ Sie erinnern daran, dass an der polnisch-belarussischen Grenze Flüchtlinge am Grenzübertritt gewaltsam gehindert werden und Anfang April wieder fast 100 Flüchtlinge im Mittelmeer ertranken. Bei denjenigen, die es schaffen, lasse die Willkommenskultur zu wünschen übrig.

Widrige Umstände der zentralen Unterbringung

„Insbesondere deren zentrale Unterbringung in den derzeit überfüllten Landeseinrichtungen (ZUE) wie unter anderem in Marl, unter widrigen Bedingungen und mit vielen Missständen, prangern wir an“, betonen Hermann Döbber und Dr. Marion Lillig vom Asylkreis. „Für die dort in Mehrbettzimmern bis zu 8 Personen unter strengen Reglementierungen und Hausordnungen untergebrachten Flüchtlinge und Asylbewerber mit ihren Kindern gelten neben unverhältnismäßig langer Verfahrens- und Aufenthaltsdauer ein Schul- und Arbeitsverbot, ein Besuchsverbot sowie teilweise Betretungsverbote für ehrenamtliche Betreuer, kaum Sprachkurse und geringe finanzielle Unterstützung sowie eingeschränkte Gesundheitsleistungen, zudem kaum Schutz vor Corona“, berichten sie aus eigener Anschauung und Gesprächen vor Ort.

Nun wurden die Asylbewerber der ZUE in Dorsten und anderen Standorten teilweise in andere Zentraleinrichtungen landesweit verlegt, um für die vertriebenen Ukrainer Platz zu machen. „Warum erfahren diese Geflüchteten nicht die gleichen Verfahrens- und Aufnahmebedingungen wie die neu ankommenden Flüchtlinge aus der Ukraine?“ fragt der Asylkreis. „Es dürfe keine Flüchtlinge erster und zweiter Klasse geben“. Allerdings werfe die in der Halterner Seestadthalle für die Ukrainer geplante ZUE als Aufnahmeeinrichtung noch viele Fragen auf vor dem Hintergrund der negativen Erfahrungen und Probleme mit zentraler Unterbringung.

Politische Gespräche und Kontakte mit Erfolgsaussichten

Schon seit 3 Jahren bemüht sich die Arbeitsgruppe des Halterner Forums intensiv um eine verbesserte Behandlung der Betroffenen in den ZUEn und setzt sich für ihre dezentrale Unterbringung ein. Nach Gesprächen mit der Regierungspräsidentin und der Bezirksregierung sowie einem Briefwechsel mit dem NRW-Integrationsminister Stamp wurde ein regelmäßiger Gesprächskreis an der ZUE Marl als Ersatz für einen fehlenden Beirat in der ZUE eingerichtet. Vor der Bundestagswahl hatte das Halterner Forum Wahlprüfsteine zur Asyl- und Flüchtlingspolitik vorgelegt.

In zwei Gesprächsrunden in Herten und Marl mit Bundes- und Landespolitikern sowie Kreis- und Kommunalpolitikern, über die auch der WDR berichtete, konnte jüngst vor der bevorstehenden Landtagswahl von bislang 3 Parteien die Zusage abgerungen werden, sich im Wahlprogramm für die Abschaffung der ZUEn und für eine deutliche verkürzte Antrags- und Aufenthaltsdauer einzusetzen.
„Damit ist die Gleichbehandlung noch nicht gewährleistet, aber der Druck aus der Zivilgesellschaft dazu verstärkt sich täglich“, bemerken die Forumsvertreter.

Die Mahnwache wird musikalisch begleitet von der Waltroper Band „Walthorpes“.

Walthorpe Sounds: Roots in motion

“Walthorpe Sounds ist eine Waltroper Musikformation, die sich musikalisch grenzüberschreitend bewegt. Die Gruppe vereint in ihren Eigenkompositionen Elemente des afrikanischen Highlife mit Rap-Passagen sowie groovenden Rock- und Popballaden. In ihren Texten werden traditionelle afrikanische Vocals ebenso wie Lyrics von Johann W. v. Goethe und Antonio Machado zitiert. … Mit ihrem Namen Walthorpe Sounds verweist die Gruppe einmal auf das Traditionelle sowie ihren geografischen Bezug. Walthorpe ist die erste historisch verbriefte Bezeichnung für das ehemalige Dorf Waltrop, und „Sounds“ verweist auf ihre verschiedenen kulturellen Wurzeln. Kurz gefasst, und mit Absicht nicht ohne ironischen Unterton formuliert, produzieren sie also transkulturelle Dorfmusik, rhythmisch und tanzbar.” (Webseite der Band).

Jean Ziegler über Geflüchtete:

"Herr Ziegler, sehen Sie auch einen Klassenunterschied unter Geflüchteten?”

Jean Ziegler über Geflüchtete: “Eine Tragödie hinter der Tragödie” NDR vom 30.03.2022

“Seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges ist deutlich geworden, dass in Europa unterschiedlich mit Geflüchteten umgegangen wird – je nach dem, woher sie stammen. Ein Gespräch mit dem Globalisierungskritiker Jean Ziegler.”
Frage von Jürgen Deppe (Interviewer):Herr Ziegler, sehen Sie auch einen Klassenunterschied unter Geflüchteten?Jean Ziegler: Zuerst möchte ich sagen, dass die rasche, großzügige, unbürokratische Aufnahme von tausenden von Flüchtlingen aus der Ukraine eine sehr gute Entscheidung der europäischen Staaten ist. Das ist ein fürchterlicher Vernichtungskrieg in der Ukraine von einem Massenmörder Putin, geführt gegen die Zivilbevölkerung. Dass diese Menschen aufgenommen werden und dass ihnen geholfen wird, ist sehr gut. Aber es gibt eine Tragödie hinter der Tragödie, von der jetzt kaum mehr jemand spricht: Das ist die Rückweisung, die Verweigerung des Asylrechtes, die Verbrechen, die an der Ost- und Südgrenze des europäischen Kontinentes begangen werden gegen die Flüchtlinge, die nicht europäischen Ursprungs sind: Gegen Afghanen, Syrer, Iraker, Südsudanesen, Jemeniten, Somalier wird Europa abgeschottet, denen wird das Asylrecht praktisch abgesprochen – obschon das Asylrecht ein universelles Menschenrecht ist, festgelegt im Artikel 14 der universellen Deklaration für Menschenrechte der UNO: Wer in seinem Land bombardiert, gefoltert oder verfolgt wird, hat das Recht, eine Grenze zu überschreiten und in einem anderen Staat Schutz und Asyl zu ersuchen. Dieses Recht wird verweigert, wenn es um diese Flüchtlinge geht. (…)

Frage: “In Polen sind noch bis zum Ausbruch des Ukraine-Krieges an der Grenze zu Belarus Menschen zurückgeschickt worden, auch im eisigsten Winter. Nach dem Ausbruch des Krieges hat Polen, obwohl die Ukraine weder zur NATO noch zur EU gehört, die Grenzen geöffnet. Da gibt es offensichtlich ein Unterscheidung in unser aller Köpfen und Herzen. Können Sie sich die erklären?

Ziegler: Die Hypothese ist: Rassismus. Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Exekutive der Europäischen Kommission, hat die griechische Grenzpolizei, diese fürchterlichen Schlägertruppen, als “Schutzschild Europas” gepriesen und ihnen gratuliert. Die Angst vor Menschen, die nicht aus Europa kommen, dass diese Menschen Feinde der europäischen Lebensweise seien, dieses Gespenst geht um in Brüssel und in den Regierungsämtern der Mitgliedsstaaten. Das ist Rassismus, der mörderisch ist. Diese Unterscheidung zwischen nichteuropäischen Flüchtlingen, die die europäische Lebensweise mit ihrer Präsenz “bedrohen” – wie, weiß ich auch nicht -, und europäischen Flüchtlingen, die wie wir sind und deshalb aufgenommen werden und mit völkerrechtskonformer Strategie großzügig behandelt werden. Dieser Rassismus muss bekämpft und gebrochen werden. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Deutschland ist ein Rechtsstaat und in einem Rechtsstaat darf es keine rassistische Diskriminierung der Rechtssubjekte geben. Das muss die öffentliche Meinung durchsetzen. Wir, die Völker Europas, haben alle Möglichkeiten, unsere Regierungen zu zwingen, das Asylrecht wieder herzustellen – ob es Europäer oder Araber sind.” (Quelle: Jean Ziegler über Geflüchtete: “Eine Tragödie hinter der Tragödie”, https://www.ndr.de/kultur/Ukraine-Fluechtlinge-Ist-das-Vorgehen-der-EU-rassistisch,gefluechtete266.html, 30.3.2022)