Wilhelm Neurohr

Jede Sekunde verschwinden 8 qm Grün- und Freifläche

Von Glücksgefühlen und Fehlentwicklungen im grünen Ruhrgebiet

Wilhelm Neurohr

Erstveröffentlichung in der Ruhrgebietszeitschrift AMOS 1-2022

Grün macht die Revierbewohner glücklich. Das erfahren wir anschaulich in dem 2020 erschienenen Buch von Thomas Dörmann: „Grüne Glücksorte im Ruhrgebiet - geh raus und blüh auf.“ Denn grüne Glücksorte finden sich im Ruhrgebiet an jeder Ecke. Je nach Standort und Jahreszeit liegen die grünen Orte oft direkt „umme Ecke“ und laden zum Schauen, Fühlen, Riechen, um die Seele baumeln zu lassen. Ob es der ausgedehnte Buer´sche Grüngürtel im zu Unrecht verrufenen Gelsenkirchen ist, der Hertener oder Gladbecker Schlosspark, der Botanische Garten in Bochum, die Duisburger Sechs-Seenplatte, die Kirchheller Heide, der Dortmunder Revierpark Wischlingen, das Ruhrtal oder die Lippezone, der endlose Haard-Wald oder die begrünten Halden mit Natur aus zweiter Hand, und, und und. Unsere Besucher aus Süddeutschland oder Frankreich sind immer erstaunt über „das viele Grün“ im Ruhrrevier, das wir ihnen stolz präsentieren.

Die grüne Lebensqualität im Revier beschrieben auch schon vor 42 Jahren die raumkundigen Herausgeber und Autoren des lesenswerten Buches: „Grünes Ruhrgebiet“ von Albert Lau (Hrsg.) und Autor Karl-Heinz Nadolny, erschienen im Gründungsjahr der grünen Partei 1980, mit einem Vorwort von Johannes Rau, damals 20 Jahre lang als Ministerpräsident von NRW darum bemüht, die Lebensbedingungen der Ruhrgebietsbewohner und ihre natürlichen Lebensgrundlagen zu verbessern: Freie Landschaft, sauberes Wasser, unverbauter Boden, saubere Luft und intakte Wälder auch im industriellen Ballungsraum für 5 Millionen Menschen. Grün hatte Konjunktur: Denn auch die Psychologen und Mediziner halten das Grün als Naturelement in seiner Wirkung auf den Menschen für „entspannend und erholend für Körper und Seele, es wirkt nervenberuhigend, stärkt das Immunsystem, hilft bei der Regenerierung, steigert die Kreativität und stärkt sogar die Bronchien, die Muskel- und Gewebezellen und reguliert den Blutdruck“.

Die über 100 Jahre alte Idee der regionalen Grünzüge im Revier

Die Begrünung des 4.400 qkm großen Ballungsraumes Ruhrgebiet als „Stadt der großen Dörfer“ und die Rückgewinnung von verloren gegangenem Grün sollte nach zwei Jahrhunderten der Industriealisierung, in denen die grüne Natur im Revier bedenkenlos und gedankenlos zerstört wurde, mehr sein als nur ein Deckmäntelchen mit Greenwashing. Das war auch das ernste Anliegen von Robert Schmidt, Bauingenieur und Stadtplaner aus Bad Münstereifel, der bereits im Jahr 1912 nach dem Vorbild der Berliner Vororte einen „Generalsiedlungsplan“ für das Ruhrgebiet entwarf. Ziel war es, eine Zersiedlung des Ruhrgebietes zu verhindern, damit unverzichtbare Grün- und Freiflächen erhalten werden können. Dafür gab der 1920 gegründete Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR) als Zusammenschluss aller Städte, Kreise und Gemeinden des Ruhrgebietes unter dem ersten Verbandsdirektor Robert Schmid vor 100 Jahren offiziell grünes Licht. Davon zeugen noch heute mehrere regionale Grünzüge auch als Klimaschneisen im Nord-Süd- Verlauf zwischen den Städten des Ballungsraumes, die allerdings im Laufe der Jahrzehnte durch weitere kommunale Siedlungsansprüche arg geschrumpft sind.

Zugleich musste im Laufe der Jahre viel Geld aufgewendet werden, um das Revier grüner und schöner zu machen. Allein die in diesem Jahr fertiggestellte Emscher-Renaturierung hat insgesamt 4,5 Mrd. € gekostet. Der Emscher-Landschaftspark im Rahmen der Internationalen Bauausstellung hat Millionen verschlungen. Die größten zusammenhängenden Waldgebiete im Ruhrgebiet wie die Haard sowie Erholungsbereiche wie den Hertener Schlosspark hat der Kommunalverband Ruhrgebiet aufgekauft und betreut sie forstwirtschaftlich. Fünf kostspielig hergerichtete Revierparks von 30-45 ha Fläche aus den 1970-er Jahren werden derzeit ökologisch aufgewertet und revitalisiert durch den Ruhrsiedlungsverband, der 1979 von SVR (Siedlungsverband Ruhrgebiet) in KVR (Kommunalverband Ruhrgebiet) umgetauft wurde und seit 2004 als RVR (Regionalverband Ruhr) firmiert mit einem eigenen Regionalparlament. Im Jahr 2009 bekam der RVR die staatliche Regionalplanung für das gesamte Ruhrgebiet übertragen, die bis dahin in der Zuständigkeit der 3 Regierungsbezirke Arnsberg, Düsseldorf und Münster aufgeteilt war. Sie alle hatten unterschiedliche Ansätze und Prioritäten der Siedlungs- und Landschaftsplanung in den Teilgebieten des Reviers. Zeitweilig hatte der Regionalverband auch die gesetzliche Landschaftsplanung für einige Städte und Kreise übernommen, dies allerdings mit mäßigem Fortschritt.

Der stetige „Flächenfraß“ erhöht den Landschaftverbrauch

Aktuell umschreibt nun der Begriff „Flächenfraß“ das zunehmende Problem des wieder stetig zunehmenden Freiflächenverbrauchs nicht zuletzt im Ballungsraum Ruhrgebiet. Denn in den Klimakonferenzen wurde deutlich: Ohne nachhaltigen Flächenschutz gelingt kein Klima- und Artenschutz, erst recht nicht im dicht besiedelten Revier, in dem auch noch Flächen für die geplanten Wohnungsbauprogramme der Ampelregierung gesucht werden, um die akute Wohnungsnot zu lindern. Und die Wirtschaftsförderer rufen unentwegt nach „mehr Gewerbeflächen“ für erhoffte Betriebsansiedlungen. Dafür opfern sie bedenkenlos große Freiflächen in der Hoffnung auf großflächige Industrieansiedlungen, wie z.B. 156 ha Fläche für den „New Park“ in den Rieselfeldern Datteln. (Die ursprüngliche Industrieflächenplanung des Landesentwicklungsplanes umfasste sogar 1.700 ha). Die Gewerbeplanung und der ausufernde Eigenheimbau an den grünen Stadträndern sowie neue Verkehrsachsen erhöhen den Siedlungsdruck und Landschaftverbrauch in den Revierkommunen, von denen nur wenige sich dem „ökologischen Stadtumbau“ gewidmet haben – getreu dem Motto: „Ruhrgebiet ist nun mal kein Kurgebiet – so sehr man auch die grünen Ecken hervorheben mag.“

Die globale und nationale Zielvorgabe, den dramatischen Landschaftverbrauch für Siedlungs- und Verkehrszwecke endlich zu bremsen und bis 2030 (mit 10 Jahren Verspätung) zu halbieren, wird jedoch von der Regional- und Landesplanung in NRW und erst recht von den immer noch wachstumsorientierten Kommunen ignoriert, die um Einwohner und Flächen konkurrieren. Auf deren Druck verfehlt der Regionalverband Ruhr in seinem neuen Regionalplan durch Ausweisung von 9.000 ha weiteren Gewerbe- und Wohnbauflächen überwiegend im grünen Freiraum alle Nachhaltigkeitsziele. Der grüne Regionalplaner wurde sogar gefeuert, weil er sich dagegen sträubte und wurde durch einen willfährigen Nachfolger ersetzt. Insgesamt ist deshalb in Deutschland und NRW (aber auch europaweit und weltweit) und nicht zuletzt im Ruhrgebiet und angrenzenden Münsterland der Landschaftverbrauch für Siedlungszwecke dramatisch, obwohl es flächensparende Alternativen bevorzugt im Innenbereich der Städte gäbe – ohne die dortigen ökologisch wertvollen Grüninseln zu zerstören, wie derzeit in der Städtebaupolitik z. B. in Marl konfliktträchtig der Fall.

Jede Sekunde verschwinden 8 qm Grün- und Freifläche

Zur Veranschaulichung der dramatischen Entwicklung abschließend ein paar Zahlen: Während der letzten 60 Jahre hat sich die Siedlungs- und Verkehrsfläche in Deutschland mehr als verdoppelt; davon sind 50% vollständig versiegelt. Jeden Tag werden zwischen 60 ha und 120 ha Freiflächen, insbesondere wertvolle landwirtschaftliche Böden zugebaut, von denen 1 Mio. ha verschwunden sind, umgerechnet 8 qm pro Sekunde. Dadurch sind 35% der Tierarten und 26% der Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. In Nordrhein-Westfalen, dem Flächenland mit der höchsten Bevölkerungsdichte in Deutschland, überdeckt die Siedlungs- und Verkehrsfläche mehr als ein Fünftel (23,6%) der gesamten Landesfläche.

NRW mit dem Ruhrgebiet ist Spitzenreiter beim Freiflächenverbrauch: Jeden Tag werden in NRW ca. 10 -15 Hektar Boden (das sind bis zu 150.000 qm) in Siedlungs- und Verkehrsflächen umgewandelt, davon 25% allein im Regierungsbezirk Münster mit dem nördlichen Ruhrgebiet. Hier liegt der Siedlungsflächenverbrauch mit 14 qm pro Tag je 1000 Einwohner fast doppelt so hoch wie in NRW mit 8 qm pro Tag je 1000 EW. Das seinerzeit angestrebte Reduktionsziel der Landesregierung NRW von 5 ha für 2020 ist damit völlig verfehlt worden, ganz zu schweigen von einem ehrgeizigen Ziel der Halbierung nunmehr bis 2030 und einem anzustrebenden Netto-Null-Verbrauch bis 2050 durch Flächenkreislaufwirtschaft. Täglich werden so immer noch Freiflächen in einer Größenordnung von 14 Fußballfeldern für Siedlungs- und Verkehrszwecke in Anspruch genommen, zuvorderst durch die Gemeinden! Die Ausbreitung der Siedlungsgebiete zerstört die Lebensräume von Tieren und Pflanzen in bedenklichem Ausmaß.

Dramatischer Flächenverlust im Ruhrgebiet zeugt vom „Greenwashing“

Seit 2009 ist die Vegetationsfläche im Ruhrgebiet (RVR-Gebiet) um rund 20.000 ha zurückgegangen während die Siedlungs- und Verkehrsfläche zugenommen hat. Insbesondere der Verlust an landwirtschaftlichen Flächen im Ruhrgebiet in einer Größenordnung von über 156 qkm (=15.630 ha) ist enorm; das waren allein zwischen 1994 und 2010 über 1.000 ha pro Jahr. In allen 53 Kommunen des Ruhrgebiets hat die Wohnbaufläche seit 2009 trotz Bevölkerungsrückgangs zugenommen. Zudem sind die Verkehrsflächen für den Straßenverkehr in 52 der 53 Kommunen der Metropole Ruhr am deutlichsten gewachsen. In der besonders verdichteten Emscher-Lippe-Region (nördliches Ruhrgebiet) mit ihren fast 400 qkm Siedlungsflächen (= fast 40% der Gesamtfläche) stieg der Flächenverbrauch in den zurückliegenden Jahren um fast 4% auf über 4.400 qm pro Tag (bzw. 4 qm Pro Tag je 1000 Einwohner).

Im dichten Siedlungsbrei des Ruhrgebietes gibt es besonders starken Nutzungsdruck auf das nicht vermehrbare Gut Fläche. So sind die einstigen regionalen Grünzüge des SVR z. B. in Recklinghausen (Ost und Stuckenbusch/Hochlar) bis auf Restflächen inzwischen zersiedelt worden. In Gelsenkirchen wurde im Naherholungsgebiet Resser Schweiz ein ausgedehntes Villenviertel vollständig in den Grünzug hinein gebaut usw. Im Naherholungsgebiet Haltern am See für jährlich 3 Mio. Erholungsuchende Revierbewohner wächst eine großzügige Eigenheimsiedlung nach der anderen in die freie Landschaft an den Stadträndern. Das alte Denken vor der grünen Ära feiert fröhliche Urständ und trotz Klimakatastrophe und Artensterben klaffen Anspruch und Wirklichkeit beim Grün- und Freiflächenschutz im Revier weit auseinander, trotz aller wohlklingenden planerischen und ökologischen Zielsetzungen auf dem Papier. Von Grün zu Greenwashing ist es auch im Revier nicht mehr weit, das eigentlich positives Vorbild für andere Ballungsräume sein wollte. Die übergeordnete Landesplanung des FDP-Wirtschaftsministers setzt noch eins drauf und betreibt Flächenplanung nach den Interessen der Bauwirtschaft und Maklerlobby und verstößt gegen die rechtlichen Vorgaben des Bundesraumordnungsgesetzes, so dass der BUND gegen den Landesentwicklungsplan von 2019 klagt. Ob die Richter das Greenwashing beenden?

Wilhelm Neurohr

Autorennotiz: Der Autor (70) war über 40 Jahre als Stadt- und Regionalplaner bei der Kreisverwaltung Recklinghausen mit der Siedlungs- und Freiflächenentwicklung im nördlichen Ruhrgebiet befasst. 1975 begann er mit Inkrafttreten des Landschaftsgesetzes NRW auf der ersten Landschaftplaner-Stelle mit der Begleitung des Freiflächenrahmenplanes für das nördliche Ruhrgebiet und des damaligen Landesentwicklungsplanes für den Freiflächenschutz.