Wilhelm Neurohr

Leserbrief an die taz zum heutigen Artikel von Georg Löwisch: „Die Jahre der Räuberin“

Der Irrglaube im Kanzler-Wahlkampf

Georg Löwisch reiht sich zum Thema Bundestagswahl mit seiner Merkel-Fixierung in die Reihe zahlreicher taz-Redakteure ein, die nicht begriffen haben, dass es in einer parlamentarischen Demokratie bei der Bundestagswahl gar nicht um das Kanzleramt geht, sondern mittels unserer Erst-und Zweitstimme auf dem Wahlzettel ausschließlich um die Zusammensetzung des Parlamentes mit unseren Volksvertretern aus Wahlkreisen und Landeslisten. Der scheidende Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat es doch uns allen ins Stammbuch geschrieben: „Das Parlament ist die Herzkammer der Demokratie“ – also nicht das Kanzleramt.

Mit anderen Worten: Anders als in einer Präsidialdemokratie wie in Amerika, Russland, Frankreich (oder demnächst in der Türkei) ist bei uns das Parlament als gesetzgebende Gewalt und als Zentrum der politischen Debatten viel wichtiger als die Regierung – denn es bestimmt eigentlich das Programm und die Richtlinien der Politik. Es bedarf keines eigenen „Regierungsprogrammes“. Die politische Richtlinienkompetenz der Kanzlerin beschränkt sich lediglich auf die Weisungsbefugnis gegenüber ihren Ministern im Bundeskabinett. Ihre politischen Handlungsaufträge erhält sie vom Parlament und hat ansonsten als Exekutivorgan die dort beschlossenen Gesetze auszuführen und umzusetzen.

Nicht ohne Grund stehen in der Rangordnung der Staatsämter die Präsidenten von Bundestag und Bundesrat (gleich nach dem Bundespräsidenten) über der Kanzlerin. Soviel zur staatsbürgerkundlichen Nachhilfe für die taz-Redaktion und die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, die mit ihrem spektakulären „Kanzlerduell“ den Wählerinnen und Wählern suggerieren möchten, sie könnten in einer Art Direktwahl die Regierungschefin oder die Regierung wählen oder abwählen. Dabei findet die eigentliche Kanzlerwahl durch den Bundestag statt und die Ernennung durch den Bundespräsidenten. Binsenweisheiten? Warum dann täglich der irreführende Personenkult um die Kanzlerkandidaten (statt um die Volksvertreter) auch in der sonst so aufgeklärten taz?

Wilhelm Neurohr, Haltern am See