Wilhelm Neurohr

Nach der Europawahl: „Europäische Demokratie irreparabel beschädigt“

Mit der äußerst knappen Wahl der Überraschungskandidatin Ursula von der Leyen mit den Stimmen von Rechtspopulisten im EU-Parlament nach „Deals in Hinterzimmern“ ist die europäische Demokratie unter Missachtung des Wählervotums irreparabel beschädigt worden. Damit ist die entfachte Europa-Euphorie endgültig dahin. Dabei haben es die Parteien allein den engagierten pro-europäischen Bürgerinitiativen zu verdanken, dass die Wahlbeteiligung bei der diesjährigen Europawahl mit einer Steigerung von 8 bis 13 Prozent so hoch lag wie seit über 20 Jahren nicht mehr. Das lag weniger an dem wiederholten Duell der anschließend abservierten Spitzenkandidaten auf allen europäischen Fernsehkanälen, die man uns als künftige EU-Kommissionspräsidenten verkauft hatte.

Vielmehr aus eigenem Antrieb waren überall die Menschen vor der Wahl für ihr vereintes Europa und gegen Nationalismus und Rechtspopulisten auf die Straßen gegangen, von „Pulse of Europe“ und zahlreichen anderen Initiativen bis hin zur gemeinsamen zivilgesellschaftlichen Großdemonstration: „Deine Stimme gegen Nationalismus – Ein Europa für alle!“ Obwohl wir für ein demokratischeres Europa als bisher auf die Straße gegangen waren, erleben wir nun sogleich das Gegenteil. Wir werden uns wohl kein zweites Mal für ein Europa auf die Straße begeben, bei der die Exekutive vorführt, dass es in der EU keine funktionierende demokratische Gewaltenteilung gibt. Die Verlierer der Europawahl sind die Wählerinnen und Wähler.

Dabei waren wir es, die mit unserem Wählervotum den Europa-Gegnern von Rechtsaußen ihren prognostizierten Durchmarsch ins Europa-Parlament vereitelt haben. Die Rechten bilden mit 73 Abgeordneten lediglich die fünftgrößte Fraktion namens ID in Straßburg und wurden im Europa-Parlament „kalt gestellt“ bei der Besetzung von Spitzenpositionen in Ausschüssen. Daneben tummeln sich noch 62 europaskeptische Rechtspopulisten der EKR-Fraktion, zu der auch die Abgeordneten der polnischen PiS-Partei gehören. Doch um deren 26 Stimmen für von der Leyen haben Bundeskanzlerin Merkel höchstpersönlich beim polnischen Regierungschef Morawiecki und parallel ihr Generalsekretär Ziemiak beim PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski in Polen erfolgreich geworben. Damit wertet die CDU vorsätzlich die geschwächten Rechten im EU-Parlament wieder auf, entgegen dem Willen der Wähler und der Mehrheit der gewählten Abgeordneten.

Ebenso hat Victor Orban von der ungarischen Fidesz-Partei, mit der die CDU in der konservativen EVP-Fraktion gemeinsame Sache macht, sich öffentlich gebrüstet, mit seinen 13 Stimmen von der Leyen zu ihrem Posten verholfen zu haben. Auch die italienische Fünf-Sterne-Bewegung bekannte sich zur Wahl von der Leyens und auch einige Abgeordnete von Matteo Salvinis Rechtsnationaler Lega schlossen sich an. Sogar Nigel Farages anti-europäische Brexit-Partei hat kurz vor ihrem EU-Austritt nach eigenem Bekunden noch zustimmend an der Wahl von der Leyens mitgewirkt, deren Stimmen ihr in Zukunft für eine Mehrheit fehlen werden. Wie schön, dass sich Frau von der Leyen aber auf die übrigen Rechten im Parlament verlassen kann, was immer sie ihnen dafür versprochen hat, derweil sie in ihrer Rede für „Rechtsstaatlichkeit“ plädierte?

Mit der Freude hierzulande über eine „deutsche“ Kommissarin wird deutlich, dass in den Parteien nicht europäisch, sondern nationalistisch gedacht wird. Nicht ein Auswahlverfahren nach Eignung und Befähigung gemäß Anforderungsprofil für das höchsten Regierungsamt in Europa findet statt, sondern ein Postengeschacher nach Länderproporz, Geschlecht und Parteizugehörigkeit unter schamloser Kungelei auch mit den Rechten?

Was erwartet uns von Frau von der Leyen?

Was haben wir nun von der Ex-Verteidigungsministerin Frau von der Leyen, als Kandidatin von Macrons Gnaden, jenseits ihrer mit Pathos vorgetragenen Rede im Europaparlament, zu erwarten? Ein sozialeres, demokratischeres und ökologischeres sowie ziviles Europa? Bislang war ihr Schwerpunkt die „Europäische Militärunion“ und die „Stärkung der militärischen Kultur in Europa“ laut ihrer Rede in Davos. Sie war im Februar 2018 als künftige NATO-Generalsekretärin al Nachfolgerin von Jens Stoltenberg im Gespräch, gehört dem Beirat der Stiftung für die von Rüstungslobbyisten finanzierten „Münchener Sicherheitskonferenz“ an , nimmt an der US-hörigen „Atlantik-Brücke“ teil, kämpft für eine Erhöhung des Rüstungsetats auf 2% - entgegen dem Votum von über 85% der Bevölkerung laut Umfragen - und plädierte im Bundestag 2016 für bewaffnete Kampfdrohnen, die sie von Israel beschaffte.

Als Verteidigungsministerin im Kabinett unterstützte sie die CDU-Kanzlerin bei der Lockerung der Rüstungsexportrichtlinien (entgegen dem Koalitionsvertrag) und widersprach auch nicht ihrer Nachfolgerin AKK bei dem Vorschlag für eine deutsch-französischen Fregatte und für mehr Auslandseinsätze. Sie will auch keine Unterzeichnung des UN-Atomwaffenverbotsvertrages durch Deutschland oder die europäischen NATO-Länder, sondern toleriert entgegen einem Bundestagsbeschluss eine Modernisierung der 20 Atomwaffen in Büchel (Rheinland-Pfalz) und befürwortet deren Transport- und Einsatzfähigkeit mit neuen deutschen Kampfjets mit der speziellen Fähigkeit zum Abwurf von US-Atomwaffen.

Statt Entspannungspolitik und ziviler Sicherheitspolitik forderte von der Leyen jüngst im Interview „Härte gegen Russland“ im Geiste des kalten Krieges und unterstützte im Oktober 2018 ein fragwürdiges NATO-Großmanöver gegen den fiktiven Angreifer Russland. Und im Alleingang legte sie noch während der zähen GroKo-Verhandlungen als kommissarische Verteidigungsministerin die Führung und die Kommandozentralen für Europas schnelle Einsatztruppen der NATO in Deutschland fest sowie den panzertauglichen Ausbau der Autobahnen in Ostdeutschland und in ganz Europa unter dem Begriff „Militärisches Schengen“.

Das alles gefiel dem französischen Präsidenten Macron bei dem Besuch von der Leyens auf seiner Luftfahrtmesse im 17. Juni in Le Bourget so sehr, dass er sie zur Kandidaten für das EU-Spitzenamt auserkoren hatte. Denn für die militärischen Ambitionen der Atommacht Frankreichs für die EU mitsamt Macrons Traum von einem „militärischen Weltraumkommando“ ist Frau von der Leyen seine deutsche Traumpartnerin und eine Verteidigungsministerin AKK eine treue Stütze. Diese sprach sich im März 2019 öffentlich dafür aus, europäischen Rüstungspartnern wie Frankreich bei den strengen deutschen Exportregeln entgegenzukommen, wie von Kanzlerin Merkel im „Freundschaftsvertrag“ von Aachen mit Macron im Januar 2019 zugunsten gemeinsamer Rüstungsprojekte unterzeichnet. Das Dreier-Gespann der rüstungsbegeisterten CDU-Spitzenfrauen könnte sich für die friedliebenden Europäer, die auf den Friedensnobelpreis der EU von 2012 stolz sind, noch als militärischer Alptraum erweisen - jenseits dessen, was die Menschen eigentlich von Europa erwarten und was ihnen vollmundig in der Bewerbungsrede von der Leyens versprochen wurde.

Wilhelm Neurohr