Wilhelm Neurohr

Leserbrief zum RZ-Leitartikel vom 19.11.2015 „Rekordanstieg der Renten in 2016“

„Rekord-Rentenerhöhung 2016 beseitigt keine Altersarmut“

Bei dem angekündigten „Rekord-Rentenanstieg“ um voraussichtlich 4,4% in 2016 – ein Jahr vor der Bundestagswahl 2017 – handelt es sich um bloße Augenwischerei! Insgesamt bleiben nämlich trotzdem die bisherigen und künftigen Rentenerhöhungen in ihrem Gesamtverlauf hinter den Preis- und Lohnsteigerungen deutlich zurück. Wegen des weiterhin niedrigsten Rentenniveaus im internationalen Vergleich droht deshalb vielen Menschen in Deutschland die Altersarmut. Schon heute sind über eine halbe Millionen Rentner, insbesondere Frauen, auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen, wie der Paritätische Wohlfahrtsverband veröffentlichte. Diese Zahl wird sich Vervielfachen.

Wenn die Bundesregierung nun in ihrem aktuellen Rentenversicherungsbericht dennoch behauptet, „die ältere Generation könne auf eine angemessene Absicherung vertrauen und die Jüngeren würden dabei nicht überfordert“, dann ist das unverantwortliche Schönfärberei einer gescheiterten Rentenreform durch SPD-Arbeitsministerin Nahles! In Wirklichkeit stehen den Rentnern magere Zeiten bevor, wie die alarmierenden Zahlen über die voraussehbare Altersarmut offenbaren. Die Rentenerhöhung 2016 beseitigt keineswegs die Altersarmut!

Frau Nahles unterschlägt die OECD-Studie, wonach Deutschland – als reichstes und wirtschaftsstärkstes Land in Europa - im internationalen Vergleich schon jetzt und in Zukunft mit ihrem drastisch abgesenkten Rentenniveau auf dem allerletzten Platz aller 30 Industriestaaten liegt. Dort liegt das durchschnittliche Rentenniveau für Geringverdiener im Durchschnitt bei 73% des Bruttoeinkommens, in Deutschland mit nur 39,9%. Das durchschnittliche Rentenniveau in den europäischen Ländern liegt zwischen 60 bis 80 Prozent des Bruttoeinkommens, in 5 Ländern sogar über 90 Prozent und in 2 Ländern über 100 Prozent (in den USA immerhin über 50 Prozent), während wir im „Sozialstaat“ Deutschland über 40 Prozent diskutieren!

Das Bundesarbeitsministerium hat bereits 2012 (sogar noch unter der damaligen CDU-Arbeitsministerin van der Leyen) ausgerechnet, dass ab 2030 Arbeitnehmern, die 2500 Euro brutto im Monat verdienen und 35 Jahre Vollzeit gearbeitet haben, nur eine Rente in Höhe des Grundsicherungsbetrags von 688 Euro drohe. Da hilft auch keine einmalige vierprozentige Rentenerhöhung für 1 Jahr! Bei 40 Jahren Beitragszahlung müsse der Arbeitnehmer konstant mindestens 2200 Euro im Monat verdienen, um auf einen Rentenanspruch in Höhe der Grundsicherung zu kommen. Grund für das steigende Altersarmutsrisiko seien die beschlossenen Rentenreformen, nach denen das Rentenniveau bis 2030 von derzeit 51 Prozent auf 43 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns vor Steuern sinkt.

Der DGB veröffentlichte eine Studie mit dem Fazit: "Die Senkung des Rentenniveaus wird geradewegs in die massenhafte Altersarmut führen. Viele werden mit dem Renteneintritt den Gang zum Sozialamt antreten müssen“ Selbst viele Arbeitnehmer, die als Geringverdiener lebenslang Vollzeit gearbeitet haben, am Ende auch nicht mehr Rente bekommen." In einem Brandbrief an die Unionsfraktion schlug die damalige Arbeitsministerin Ursula von der Leyen Alarm, dass alle, die unter 2500 Euro verdienten, "mit dem Tag des Renteneintritts den Gang zum Sozialamt antreten" müssten. 40 Prozent der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Geringverdiener (1,8 Millionen) würden oder könnten keine private Altersvorsorge betreiben. In dem siebenseitigen Schreiben warnte von der Leyen demnach: "Es steht nicht mehr und nicht weniger als die Legitimität des Rentensystems für die junge Generation auf dem Spiel."

Mit der kläglich gescheiterten „Riester-Rente“ als Teilprivatisierung des Rentenversicherung zugunsten privater Versicherungskonzerne und Finanzdienstleister (wie der skandalumwobene Schröder-Freund Carsten Maschmeyer) und mit der alleinigen Entlastung der Arbeitgeber-Beiträge begann der Niedergang unseres vorher sicheren staatlichen Rentensystems! „Transparency International“ sah hier die Grenze zur Korruption überschritten. Würde man statt der empfohlenen 4% Zusatzzahlung in die private Riester-Rente die Beiträge zur staatlichen Rentenkasse um nur 2 Prozent erhöhen (davon die Hälfte auf die Arbeitgeber), wären für Jahrzehnte unsere angeblich „demografischen“ Rentenprobleme gelöst und wir könnten uns dem europäischen Rentenniveau wieder annähern. (An diesem Thema wird sich übrigens entscheiden, ob die SPD jemals wieder über 24 Prozent der Wählerstimmen kommt.)

Wilhelm Neurohr

(iwipo-Institut für Wissenschaft, politische Bildung und gesellschaftliche Praxis)