Wilhelm Neurohr

10. Dezember 2021:

Tag der Menschenrechte - Trauerspiel in Europa und weltweit

Am diesjährigen Tag der Menschenrechte ist es um die Menschenrechte und Menschenwürde nicht gut bestellt: Ob an den europäischen Außengrenzen, in Belaruss, in Griechenlands Flüchtlingslagern, ob in Afghanistan, Syrien, Myanmar oder Afrikas Militärdiktaturen überall bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke. Ist die geplante Neuausrichtung der deutschen Asyl- und Flüchjtlingspolitik durch die Ampelkoalition ein kleiner Lichtblick?

Die ökumenische Friedensbewegung pax Christi hat mit ihrer Kommission Migration einen Impuls zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 2021 gesetzt, "damit Solidarität wachse". Er beginnt mit folgenden Feststellungen:

"Es ist still geworden. Wir hören wenig über die Menschen, die in den Lagern an den EU-Außengrenzen, sei es auf Lesbos, Samos oder Chios, auf Asyl hoffen. Vor einem Jahr hat die pax christi-Kampagne "kein Weihnachten in Moria" (später "Menschenrecht statt Moria") auf die Situation der Menschen in den griechischen Lagern aufmerksam gemacht und ihre Aufnahme gefordert. Und doch müssen weiterhin viele Menschen in den sogenannten Hotspots auf den griechischen Inseln ausharren. Zum Teil auch in neuen Lagern, die mehr ein Gefängnis als eine sichere Unterkunft sind. Wieder steht Weihnachten bevor:

  • ein Weihnachten, dass wieder keines ist, weil der Grenzschutz für viele Staatenlenkende in der EU immer noch einen höheren politischen Stellenwert hat als der Schutz von Menschen und ihren Rechten.
  • Ein Weihnachten, dass wieder kenes ist, weil Hoffnung auf neue Chancen für ein Leben in Sicherheit, in Frieden und in Würde am politischen Taktieren erstickt.

Doch diese Hotspots in der Agäis-Region sind nicht die einzigen Orte der Perspektivlosigkeit. Regionen der an Belarus grenzenden EU-Staaten Polen, Lettland und Litauen kommen sorgenvoll dazu. Es gibt ein Sperrgebiet, zu dem Journalistinnen und Journalisten keinen Zutritt haben und humanitäre Hilfe auch nur sporadisch und wenig koordiniert zu den Menschen in der Kälte und Unsicherheit gelangt. Migrantinnen und Migranten sind an dieser Grenze bereits gestrorben. Sie werden instrumentalisiert zur Durchsetzung politischer Interessen des belarussischen Präsidenten.

Sie stoßen auf eine verängstigte EU, die versucht, das eigene politische Versagen in der Regelung humaner Integrationswege und Asylverfahren zu kascheiren, indem sie Härte an den Grenze zeigt. Dass dabei billigend der Tod von Menschen in Kauf genommen wird, scheint nur wenig politische Verantwortliche zu interessieren.

Anstatt einem autoritären Herrscher den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem das Recht der flüchtenden Menschen auf Asyl geprüft wird, sie aufgenommen und in der EU verteilt werden, wird mit Lukaschenko und anderen Drittstaaten über diese Menschen verhandelt, als wären sie Waren. Einerseits werden somit Menschen und ihre Grundrechte wie ein Gut behandelt, das getauscht werden kann, und andererseits wird autoritären Regimen damit indirekt gezeigt, dass sie die EU mit Migrationsbewegungen unter Druck setzen können. Schutzsuchende Menschen stehen an der Grenze zur EU. Dort werden sie trotz einige illegaler Abschiebungen per Flugzeug bleiben. Diese Menschen brauchen konkret Hilfe und eine Perspektive, und zwar auf einer demokratischen und menschenrechtlichen Basis."

Hierzu fordert die Aktion Seebrücke "Grünes Licht für Aufnahme" (http://seebruecke.org/aktuelles/kampagnen/gruenes-licht-fuer-aufnahme)

Vergangene Woche hatte Papst Franziskus bei seinem Besuch auf Lesbos folgende Ansprache gehalten:https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2021-12/wortlaut-4-papst-franziskus-griechenland-lesbos-migranten-lager.html

In der Bootschaft von pax christi heißt es: "Weihnachten heißt, auch in uns kleinen Menschen kann aufrichtende Gerechtigkeit und Solidarität mit den Armen unserer Zeit groß und wirkmächtig werden." Dies erfordert, das richtige Gspür für die Sorgen, Nöte und Bedürfnisse der Mitmenschen zu haben und sensibel dafür zu sein, wo Unrecht geschieht.

Menschlichere Migrationspolitik durch die Ampelregierung?

Auch die neue Ampelkoaltion strebt laut Koalitionspapier eine menschlichere Migrationspolitik an. Dazu fordert pax christi ":

Mehr Mut zu menschlicher Migrationspolitik!

Die Koalitionspartner zeigen: Eine menschlichere Migrationspolitik ist möglich – zufriedengeben darf sich aber niemand! Es gibt noch viel zu tun, Herr Scholz.

Der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP zeigt, dass ein Umdenken in der Asyl- und Migrationspolitik möglich ist, dass die Politik sich aber noch mehr trauen müsste.

„Die Vereinbarungen der Ampelparteien gehen in die richtige Richtung, jedoch zeigt dies umso mehr, wie sehr wir uns an eine menschenunwürdige Migrationspolitik gewöhnt haben“, resümiert Tim Thiessen, Mitglied der pax christi-Kommission „Migration“ und betont: „Nun bleibt es zu hoffen, dass die Koalitionspartner diese Versprechungen halten und durchsetzen. Es darf jedoch nicht dabeibleiben. In Europa muss ein Zeichen dafür gesetzt werden, dass Migrationspolitik auch menschlich möglich ist. Hier muss Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen.“

Die pax christi-Kommission „Migration“ hebt einige Punkte aus der Einigung der zukünftigen Koalition positiv in den Vordergrund. Als unterstützenswert betrachtet sie, dass:

1. subsidiär Geschütze mit Flüchtlingen beim Thema Familiennachzug wieder gleichgestellt,

2. der Geschwisternachzug von Flüchtlingen für Minderjährige umstandslos ermöglicht,

3. die Visavergabe sowohl digital als auch schnell umgesetzt,

4. Bleiberechtsregelungen und Aufenthaltsrecht vereinfacht,

5. Arbeitsverbote für Flüchtlinge zurückgenommen,

6. Bildungskurse ausgebaut und zugänglicher gemacht,

7. die Hilfe für Kranke nicht an Meldepflichten gebunden und psychosoziale Hilfe ausgebaut

8. die Planung von sogenannten Anker-Zentren aufgegeben werden sollen.

Jedoch sieht die pax christi-Kommission nicht nur positive Aspekte im Koalitionsvertrag. Es gibt weiterhin viele Punkte, die menschenrechtlich und aus christlicher Sichtweise zu kritisieren sind:

Eine maximale Aufenthaltszeit in Erstaufnahmeeinrichtungen ist nicht vereinbart worden. Damit akzeptiert die Bundesregierung weiterhin gefängnisähnliche Bedingungen, in denen Menschen leben müssen, ohne dass sie sich dort aufgrund eines Verbrechens befinden.

Außerdem soll an der Praxis der Abschiebungen festgehalten werden, wobei im Koalitionsvertrag im Militärjargon von einer „Rückführungsoffensive“ gesprochen wird.

Im Koalitionsvertrag wird als Alternative zur sogenannten Rückführung von „freiwilligen Ausreisen“ gesprochen. Thiessen macht deutlich, dass dieses Wording ein Framing beinhaltet: „Es gibt keine ‚freiwilligen Ausreisen‘. Der Begriff macht lediglich ein friedliches Narrativ auf, von Menschen, die faktisch zurück in ein risikoreiches Leben geschickt werden, aus dem sie wegen gewisser Gründe geflohen sind. Es gibt keine friedlichen einvernehmlichen Ausreisen oder Abschiebungen. Gewalt jeglicher Art spielt dabei immer eine Rolle.“

Des Weiteren wird im Koalitionsvertrag von der vermeintlichen Erpressbarkeit der EU und Deutschlands gesprochen, bei der Geflüchtete von anderen Staaten als Druckmittel eingesetzt werden. Das soll durch eine auf Migrationsabkommen forcierte Politik verhindert werden. Jedoch kann Deutschland nur erpresst werden, solange Migration als Gefahr gesehen wird. Wenn die Menschen, die Schutz brauchen, mit rechtsstaatlichen Verfahren aufgenommen würden, könnte dieser Erpressbarkeit effektiv und menschlich entgegengewirkt werden. Zudem haben sich Abkommen mit Drittstaaten in der Vergangenheit häufig als finanzielle und materielle Unterstützung der Gewalt gegen Schutzsuchende herausgestellt.

Im gleichen Zug wird von der Prüfung der möglichen Feststellung des Schutzstatus in Drittstaaten gesprochen. Dabei besteht die Gefahr, dass die momentan auf EU-Boden eingerichteten Erstaufnahmelager in Staaten verlegt werden, in welchen die Menschenrechte noch weniger geachtet werden und sich die EU leichter aus der Verantwortung für Verletzungen dieser ziehen kann.

Im Endeffekt ist die EU die mächtige Instanz in der Migrationspolitik, wobei die Bundesregierung versuchen muss, auf die menschlichen Werte und Rechte aufmerksam zu machen und für diese einzustehen. Auch hier wird sich zeigen, ob eine europäische Seenotrettung, wie sie im Koalitionsvertrag vorgeschlagen wird, durchgesetzt werden kann. Wie momentan am Beispiel Polens zu sehen ist, werden Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention trotz der offiziellen Unterstützung dieser und Mitgliedschaft in der EU gebrochen – ohne Konsequenzen.

Die pax christi-Kommission „Migration“ hofft auf eine Durchsetzung der menschenfreundlichen Vereinbarungen im Koalitionsvertrag und ruft die zukünftige Bundesregierung dazu auf, mutiger voranzugehen und eine menschliche und progressive Migrations- und Asylpolitik zu gestalten. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir wollen […] Ursachen für die lebensgefährliche Flucht bekämpfen. Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden.“ – Steht zu euren Worten und lasst ihnen zügig Taten folgen!