Wilhelm Neurohr

Bundestagswahl 2021:

Allensbach-Umfrage: Mehrheit will einen Regierungs- und Politikwechsel

„Das öffentliche Wohl soll das oberste Gesetz sein“. (Cicero)

Wenige Wochen vor der Bundestagswahl will eine Mehrheit der Menschen in Deutschland einen politischen Wechsel (67%) und einen umfassenden Regierungswechsel (60%). Das ergab eine neue Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Der Wunsch nach Wandel ist unübersehbar: 67% wollen eine andere Flüchtlingspolitik mit besserer Integration der Geflüchteten. Je 55% der Befragten wollen mehr Umwelt- und Klimaschutz sowie im Alter eine sichere Rente, es folgen mit je 52% mehr Anstrengungen in der Bildungspolitik und bezahlbarer Wohnraum. Eine Mehrheit fordert also nebst Sicherheit und Chancengleichheit vor allem soziale Gerechtigkeit und eine lebenswerte Zukunft auch für unsere Kinder.

Ein Kurswechsel in der Klimapolitik wird von den meisten am wichtigsten angesehen, aber ohne die sozial Schwächeren dabei am stärksten zu belasten, sondern sie vielmehr zu entlasten. Denn die bisherige Klimapolitik ist bei der Lastenverteilung zutiefst ungerecht. Soziale Gerechtigkeit statt soziale Spaltung der Gesellschaft wird von einer deutlichen Mehrheit der Menscheng generell für unabdingbar gehalten: Denn soziale Ungleichheit ist demokratiegefährdend.

Das reichste eine Prozent besitzt ca. ein Drittel des gesamten Vermögens. Und bei den wohlhabendsten zehn Prozent sind fast zwei Drittel versammelt. Aber auch der Rest verteilt sich nicht gleichmäßig, denn die untere Hälfte der Bevölkerung besitzt fast nichts. Dennoch belastet die bisherige Klimapolitik die sozialen Unterschichten am stärksten, so dass Klimanotstand und sozialer Notstand einhergehen. Von einer solidarischen Gesellschaft sind wir noch weit entfernt.

„Man verkauft uns meistens Gesetze für Gerechtigkeit und oft sind sie gerade das Gegenteil.“ (Johann Gottfried Seume)

Soziale Spaltung der Gesellschaft gefährdet die Demokratie

Die Wahlbeteiligung der sozial Benachteiligten ohne Vermögen und ohne Bildungsressourcen ist deshalb deutlich niedriger. Obendrein ist nach einer aktuellen Studie des deutschen Instituts der Wirtschaft im Auftrag des Sozialverbandes VdK die Lebenserwartung der sozial Benachteiligten um Jahre geringer als bei den Vermögenden, Einkommensstarken und Gebildeten in der Mittel- und Oberschicht. Auch Privatversicherte und Beamte leben länger als Arbeiter. Der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Menschen aus den niedrigsten und höchsten Einkommensgruppen beträgt fünf Jahre. Benachteiligt sind vor allem diejenigen, „die das Land am Laufen halten“. Doch das deutsche Gesundheitswesen ist auf Profite statt auf Gesundheit ausgerichtet, wie Mediziner und Klinikärzte beklagen.

Was ist von den Bundestagsparteien in punkto sozialer Gerechtigkeit zu erwarten, um die stetig zunehmende soziale Spaltung zu überwinden? Die Superreichen sind nicht zu fassen, im Gegenteil: Die Zahl der Dollar-Millionäre ist in der Corona-Pandemie noch weiter gestiegen und sie profitieren überdurchschnittlich vom Börsen-Boom. Sie sind die großen Nutznießer der anhaltenden Umverteilung von unten nach oben. Auf der anderen Seite wird selbst das Wohnen für Normalverdiener unbezahlbar angesichts dramatisch steigender Immobilien- und Mietpreise in jährlich zweistelliger Prozentzahl. Mit Mindestlohn kann man sich in Ballungsräumen keine Wohnung leisten.

Zugleich steigt die Obdachlosigkeit, die Kinderarmut und die Altersarmut in Millionenhöhe und die Armenspeisungen in Suppenküchen und Tafeln haben sich in unserem reichsten Industrieland seit 2000 und in der Ära Merkel verdreifacht. Das taucht in keiner schöngefärbten Regierungsbilanz auf und die sozial Benachteiligten sind auch nicht im Parlament vertreten.

Soziale Defizite in allen Parteiprogrammen statt Verteilungsgerechtigkeit

„Die schlimmste Art der Ungerechtigkeit ist die vorgespielte Gerechtigkeit“. (Platon)

Beim Vergleich der Parteiprogramme zur Bundestagswahl fällt auf, dass keines der Programme wirksam dazu beiträgt, die soziale Schieflage wirklich auszugleichen. Weder Grundrente, noch leichte Erhöhung des Mindestlohnes oder Aufstockung des Hartz-IV-Satzes oder des Kindergeldes um einige Euro können das Notwendige bewirken. Selbst die politischen Vorschläge aus dem „linken Lager“ von rot-rot-grün, insbesondere zur Steuerpolitik sowie Renten- und Lohnpolitik, reichen bei weitem nicht aus, um an diesem sozialen Missstand grundlegend und nachhaltig etwas zu verbessern, wie die Universität Jena in einem Forschungsprojekt ermittelt hat. Dass demgegenüber Vorstandsmitglieder der Dax-Konzerne mit durchschnittlich 3,4 Mio. € Jahresgehalt mehr als das 50-fache ihrer Mitarbeiter verdienen, ist ein obszönes Missverhältnis. Es belegt nebst der Habgier die sozialen Kälte gegenüber den arbeitsamen Leistungsträgern am unteren Ende der Gesellschaft, die den Reichtum erwirtschaften, ohne daran angemessen beteiligt zu werden.

Sämtliche parteipolitischen Vorschläge zur höheren Besteuerung der Reichen betreffen gerade mal ein Prozent der Haushalte und nicht die reichsten zehn Prozent, die zweidrittel des Vermögens halten, so hat die soziologische Fakultät der Universität Jena nachgerechnet. Von Verteilungsgerechtigkeit wird deshalb auch in der nächsten Wahlperiode kaum etwas zu bemerken sein. An den ungerechten Eigentumsverhältnissen wird sich substantiell fast nichts ändern: Arm bleibt arm, Reich wird reicher.

Nicht die wahlkämpfenden Parteien, sondern allein die zivilgesellschaftlichen Bewegungen könnten diesen Missstand aufbrechen, andernfalls nimmt unsere vom Rechtspopulismus ohnehin geschädigte Demokratie noch weiteren Schaden. Deshalb: Regierungs- und Politikwechsel ist von der Bevölkerungsmehrheit nicht als bloßer Machtwechsel oder Personenwechsel gewünscht, sondern um wirklicher sozialer Veränderungen willen. Diese gehen auch weiterhin nicht von Parteien, Regierungen oder Parlamenten aus, sondern allein vom Volk als Souverän in einer Demokratie.

„Soziale Gerechtigkeit ist die Basis der Demokratie“. (Diakonie-Präsident Ulrich Lilie)

Wilhelm Neurohr