Wilhelm Neurohr

Die ersten öffentlichen Gratulanten des frisch gekürten SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück waren ausgerechnet Josef Ackermann, Ex-Chef der Deutschen Bank sowie Ex-Kanzler Gerhard Schröder, außerdem positive Stimmen aus der arbeitgebernahen neoliberalen Initiative „Neue soziale Marktwirtschaft“. Nachdem sogar die „Parteilinken“ in der SPD den im Handstreich zum Kanzlerkandidaten ernannten Peer Steinbrück mit „Standing Ovation“ feierten, stellt sich für die Wählerinnen und Wähler die Frage: Was ist der um unsere Wählerstimmen buhlende Kandidat für eine Persönlichkeit? Können wir ihm als Politiker und „Finanzexperten“ vertrauen?

Bisher rankt sich zwar um ihn die Legende, er habe als Finanzminister zu Zeiten der großen Koalition Deutschland angeblich sicher durch die Finanzkrise gelotst, obwohl er in Wirklichkeit die Finanzmärkte dereguliert hatte und die heraufziehende Bankenkrise bis zuletzt verleugnete. Als Ministerpräsident und als Oppositionspolitiker hat der Sozialdemokrat die meisten Parlamentssitzungen versäumt und stattdessen mit 80 bezahlten Vorträgen bei Großunternehmen, Banken und Versicherungen eine halbe bis eine Million € verdient, weiteres Taschengeld beim Stahl- und Rüstungskonzern ThyssenKrupp im Aufsichtsrat. Die Offenlegung seiner Nebeneinkünfte verweigert er bis heute. Die für die Armutsentwicklung verantwortliche Schröder´sche Agenda 2010 bezeichnete der Sozialdemokrat Steinbrück als „größte politische Leistung der Nachkriegsgeschichte“.

Aus „welchem Holz ist der Kandidat geschnitzt“, der nach eigenen Worten „aus Eitelkeit und Ehrgeiz“ (ARD-Brennpunkt vom 1.10.2012) im Rentenalter noch Kanzler dieser Republik werden möchte? Schauen wir etwas gründlicher in die Etappen seiner politischen Biografie:

ERSTE ETAPPE: Der Schüler Peer Steinbrück musste nach zweimaligem Sitzenbleiben das Gymnasium wegen Schlechtleistung vor dem Abitur verlassen. Es reichte dann aber für ein nachgeholtes Fachabitur an der Handelsschule und ein Studium der Volkswirtschaft mit mäßigem Abschluss. Seine gesamte Berufstätigkeit nach Studienaschluss 1974 absolvierte er nicht etwa erfolgreich in Wirtschaftsunternehmen, sondern ausschließlich über das Parteibuch als Referent von Politikern und in Ministerien, sowie weiterhin als Berufspolitiker, vom Staatssekretär bis zum Landesminister in Schleswig-Holstein und NRW (im Kabinett Clement), als Bundesminister und Abgeordneter. Sein Erfahrungshorizont ist also ausschließlich die politische Subkultur.

ZWEITE ETAPPE: Als Ministerpräsident von NRW - ohne Wählervotum nach dem Abgang von Clement in das Schröder-Kabinett nach Berlin – hatte er die WestLB-Affäre der NRW-Landesbank mit zu verantworten, in dessen Kreditausschuss er als Kontrolleur ständig gefehlt hatte. Vom Landesverfassungsgericht wurden ihm zudem verfassungswidrige Haushalte vorgehalten. Dem grünen Koalitions-partner verweigerte er eine ökologische Orientierung seiner lobbyhörigen Industriepolitik. Deswegen und wegen seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik wurde er bei der Landtagswahl 2005 nach nur 3 Jahren Amtszeit von den Wählern in der SPD-Hochburg NRW mit nur 37% abgewählt - das schlechteste Ergebnis der NRW-SPD seit 1954 - und musste den Platz für den CDU-Ministerpräsidenten Rüttgers räumen.

DRITTE ETAPPE: Der Wahlverlierer Steinbrück wurde 2009 zum Bundesfinanzminister im Kabinett Merkel (große Koalition) berufen, nachdem er sich 2007 vergeblich um ein Direktmandat für den Bundestag in seinem Wahlkreis bemüht hatte, den er an eine junge CDU-Politikerin verlor. Als Finanzminister wandte er sich gegen die Pläne von SPD-Parteichef Gabriel, den Agenda-2010-Kurs der Schröder-SPD zu korrigieren. Stattdessen kündigte er an, den Kurs seines Vorgängers SPD-Finanzminister Hans Eichel fortzuführen, der zuvor Hedgefonds freigegeben hatte und mit der „Jahrhundert-Steuerreform“ die Reichen steuerlich entlastet hatte zu Lasten der Staatseinnahmen und der Kommunen. In der Bankenkrise 2008 hielt Steinbrück bis zuletzt das Bankensystem für stabil und hatte auch den Niedergang der Hypo-Real-Estate (HRS-Bank) nicht vorhergesehen, für deren Rettung dann der Staat mit Milliardensummen haften musste. Zudem betrieb Steinbrück eine Deregulierung statt Regulierung der Finanzmärkte mit Förderung von Investments- und Immobilienfonds und „Stärkung des Börsenstandortes Deutschland“. Insofern war er an der historischen Wahlniederlage der SPD mit 23% bei der Bundestagswahl 2009 unter Kanzlerkandidat Steinmeier maßgeblich beteiligt.

VIERTE ETAPPE: Als Bundestagsabgeordneter über die NRW-Landesliste in der Opposition schwänzte er die meisten Parlamentssitzungen und als stellv. SPD-Vorsitzender die Sitzungen vieler Parteigremien, um stattdessen sechsstellige Summen mit bezahlten Vorträgen vor Banken, Unternehmen und Versicherungen und mit Aufsichtsratstätigkeit zu verdienen. Dennoch ernannte er sich dann mit Hilfe des Altkanzlers Helmut Schmidt in 2011 selber im Alleingang zum Kanzlerkandidaten unter Berufung auf Hinterzimmer-Gespräche mit 2-3 Persönlichkeiten. Vor allem die Mediennetzwerke der neoliberalen „Initiative Neue soziale Marktwirtschaft“ stellten ihn in den Medien als „erfolgreichen Sympathie-Träger“ vor. Mit lockeren Sprüchen über Steueroasen und einem Konzept zur Bankenregulierung und zur sozialen Orientierung versuchte Steinbrück sich im September 2012 im SPD-Parteivorstand als wandlungsfähig und akzeptabel für alle Parteiflügel darzustellen.

Es stellt sich die abschließende Frage: Wer nimmt Peer Steinbrück die plötzliche Wandlung „vom Saulus zum Paulus“ ab? Selbstkritik ist nicht seine Stärke. Allein das Ausrufen der Wiederbelebung einer neuen „sozialen Marktwirtschaft“ ist noch kein neues Programm, sondern ein abgegriffener Ladenhüter aller Parteien. Die „masochistische“ Parteilinke, die für soziale Gerechtigkeit, für faire Umverteilung und Abkehr von der Schröder´schen Agenda-Politik steht, musste ihn zähneknirschend als Kanzlerkandidat akzeptieren.

Aber einmal mehr muss sie erfahren: Nur in der Opposition steht die SPD für linke, sprich soziale Politik und lässt dem linken Flügel eine Spielwiese. Sobald jedoch die Regierungsmacht erstrebt wird, werden im nicht gerade basisdemokratischen „Hau-Ruck-Verfahren“ die Exponenten des rechten Parteiflügels aufs Schild gehoben. Deshalb lautet meine Wahlprognose: max. 28% für die weiterhin neoliberale SPD, denn die abtrünnigen ehemaligen SPD-Wähler kann der Schröderianer Steinbrück nicht zurückholen.