Wilhelm Neurohr

​Die anhaltenden Montagsdemonstrationen in mittlerweile über 100 deutschen Städten, insbesondere in Ostdeutschland und im Ruhrgebiet, mit zwischenzeitlich über 100.000 Teilnehmern thematisieren das Recht auf Arbeit und auf ein Leben in Würde. „Wie viel muss ein Mensch ertragen können, der nach vielleicht 30 Berufsjahren schuldlos arbeitslos wird und fortan mit 331 € monatlich auskommen soll oder dafür noch zum Stundenlohn von 1 € zwangsweise anschaffen kann, obwohl er lebenslänglich in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat?“ so beklagte ein betroffener Teilnehmer in einem Leserbrief in der Tageszeitung die empfundene soziale Unausgewogenheit der im deutschen Bundestag als Gesetz beschlossenen, aber heftig umstrittenen Regierungspläne zur drastischen Reduzierung der einstigen Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau. Die Beweggründe der Demonstranten reichen aber weit über dieses Teilproblem hinaus: Auf der Tagesordnung steht anlässlich der Konflikte um Arbeit und Einkommen die soziale Frage insgesamt und das Verhältnis zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sowie zwischen Individuum und Gemeinschaft – die Kernpunkte der sozialen Dreigliederung.

Mündige Menschen mit verletztem Gerechtigkeitsempfinden wenden sich gegen Alternativlosigkeit und Schutzlosigkeit

Der Protest richtet sich also nicht nur gegen die materiellen Kürzungen und die Stigmatisierung als „Almosenempfänger“, sondern ist der Beginn eines Wertewandels von unten aufgrund des verletzten Gerechtigkeitsgefühls der Menschen, die eine soziale Perspektive und Neuordnung anstreben und sich gegen die angebliche „Alternativlosigkeit“ der „von oben verordneten“ Maßnahmen zur „Bestrafung der Arbeitslosen“ ohne Erwerbsarbeit und den Missbrauch des Reformbegriffes sowie die Erosion der Demokratie wenden. Wo angeblich keine Alternativen bestehen, gibt es auch keinen Raum für Entscheidungen, Kontroversen, Kritik, öffentliche Diskurse und Partizipation der Bürgerinnen und Bürger. Die von den mündigen Menschen selber organisierten Proteste erzählen von individuellen Schicksalen und sind keine von Gewerkschaften oder „linken Parteiideologen“ organisierten Massenmärsche, wenngleich die eine oder andere politische Gruppierung sich ungebeten anhängt.

Das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen ist zutiefst verletzt und das Vertrauen in die parlamentarisch-demokratischen Entscheidungsprozesse empfindlich gestört, je hartnäckiger die handelnden Politiker, die Medien und die Wirtschaftsverbände mittels einer Art Mantra den nachteilig Betroffenen entgegen deren Alltagserfahrungen ununterbrochen einzureden versuchen, die sozialen Einschnitte seien zu ihrem Wohle und sie seien absolut alternativlos. Handelt es sich nicht in Wahrheit um einen Interessen- und Verteilungskonflikt zugunsten der Stärkeren und zu Lasten der Schwächeren, den der ehemalige deutsche Bundespräsident Johannes Rau vor seinem Ausscheiden so charakterisierte: „In den Debatten über Reformen wird allzu oft das Gemeinwohl vorgeschoben, wo es um nichts als Gruppenegoismus und Verbandsinteressen oder gar um erpresserische Lobbyarbeit geht.“ Mit seiner deutlichen Kritik am Verhalten derer, die in wirtschaftlicher oder öffentlicher Verantwortung stehen und ungeniert in die eigene Tasche wirtschaften, konstatiert Johannes Rau: „Das Gefühl dafür, was richtig und angemessen ist, scheint verloren gegangen zu sein.“ Der Staat müsse auch die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger stärken und die Menschen schützen vor denjenigen gesellschaftlichen und ökonomischen Kräften, welche die Freiheit des Einzelnen längst viel stärker bedrohen als jede Obrigkeit.

Nur die gerechte Teilhabe aller Menschen am gemeinsam erarbeiteten gesellschaftlichen Wohlstand schafft den sozialen Frieden und Ausgleich, der die Menschen im Wirtschaftsleben brüderlich eint und gleichermaßen am kulturellen Leben teilhaben lässt. Das wusste schon der Hl. Augustinus als Staatsrechtslehrer aus dem Altertum: „Ein Staat, dem es an sozialer Gerechtigkeit mangelt, was ist der anderes als eine große Räuberbande?“ Von „Sozialräubertum“ einer großen Koalition aller Parteien mit der Wirtschaft gegen die Bedürfnisse des Volkes ist denn auch die Rede. Tatsächlich bricht die Gesellschaft auseinander in Gewinner und Verlierer, seit dem der Markt zur Religion erhoben, die Habgier der Reichen zum Götzendienst gemacht wurde und die politischen Entscheidungsträger selber keine Betroffenen ihrer eigenen Beschlüsse sind.

Fällige Diskussion um die Zukunft von Erwerbsarbeit und die Trennung von Arbeit und Einkommen

Mit dem Höchststand von 4,36 Mio. statistisch registrierten und bis zu 7 Mio. geschätzten tatsächlichen Arbeitslosen im größten und reichsten europäischen Industriestaat Deutschland ist die überfällige Diskussion um die Zukunft der abhängigen Erwerbsarbeit und die Trennung von Arbeit und Einkommen als eine Kernfrage der sozialen Dreigliederung durch die Montagsdemonstrationen der Betroffenen in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion gerückt, ebenso die Frage, ob Arbeitslosigkeit ein individuelles Verschulden ist oder das Krankheitssymptom einer sozial versagenden Solidargemeinschaft. Auf einem Plakat der Demonstranten prangte die Frage: „Die menschliche Arbeitskraft als Ware?“. Auf einem anderen Schild war zu lesen: „Teilen macht alle reich“. Die Arbeitslosigkeit ist nicht dadurch zu beseitigen, dass man den Arbeitslosen „Daumenschrauben“ anlegt, wie sie es selber empfinden und an jedem Montag artikulieren, sondern in dem beispielsweise die reichlich vorhandene und unerledigte Gemeinwesenarbeit durch alle davon profitierenden Nutznießer mit einem existenzsichernden Einkommen ausgestattet wird.

Während die Betroffenen sagen, es war deshalb höchste Zeit für die überfälligen Montagsdemos, entzweit sich die öffentliche Diskussion an der Frage, ob es legitim sei, die Proteste gegen die sozialstaatlichen Leistungskürzungen für Arbeitslose in historischer Anlehnung als Montagsdemonstrationen zu bezeichnen und durchzuführen. Heftige Missbrauchsvorwürfe äußerten jedenfalls die Bundesregierung, manche Zeitungskommentatoren und die ehemaligen DDR-Bürgerrechtler, die inzwischen selber in politische Staatsämter aufgerückt sind. Die spontanen Initiatoren sorgen sich zwar selber, dass der geschichtlich besetzte Begriff der traditionellen Montagsdemonstrationen durch inflationären Gebrauch abgenutzt werden könnte. Sie wollen auch mit den Montagsdemonstrationen ausdrücklich keine politische Verbindung herstellen zwischen dem damaligen Unrechtsregime der DDR und der demokratisch legitimierten heutigen gesamtdeutschen Bundesregierung, wenngleich für beide der Vorwurf zutreffe, den Kontakt zum Volk und dessen Alltagswirklichkeit verloren zu haben. Solange sich demokratisch gewählte Volksvertreter weigern, den Willen des Volkes zu vollziehen, statt die Menschen zu belehren und zu bevormunden, würden auch sie zu einem vormundschaftlichen Staatsverständnis beitragen. Damals wie heute gehe es mit den Montagsprotesten um Menschenrechte, Demokratie und sozialen Frieden. Die Kritik daran empfinden die Initiatoren erklärtermaßen als „Akt der Entwürdigung freiheitlicher Identität“.

Eine demokratiefähige Gesellschaft braucht Zivilcourage und die Rückgewinnung ethischer Maßstäbe: Welches Menschenbild steht hinter den Sozialreformen?

Um demokratiefähig zu bleiben, braucht die Gesellschaft die Rückgewinnung verlorener ethischer Maßstäbe und die alltägliche Zivilcourage, gegen den Strom der herrschenden Einheitsmeinung anzutreten, dass der Gewinn für Aktionäre höchstes Gut sei und die sozialen Belange der arbeitenden und arbeitslosen Menschen und ihres Staates sich dem unterzuordnen haben. Die Grenzziehung zwischen Staat und Wirtschaft ist im Einheitsstaat verschwommen. Erforderlich ist in einer Demokratie die kontroverse öffentliche Suche nach geeigneten Lösungen der sozialen Frage und nach fairem Interessenausgleich, da die Menschen einander brauchen. Es besteht Veranlassung, einmal das Menschenbild zu hinterfragen, dass hinter dem Vorhaben der „Agenda 2010“ und des Konzeptes „Hartz IV“ steht.

In diesem Sinne wollen die Montagsdemonstranten die Politiker zur Einkehr bewegen, zumal sich auch die Westdeutschen von den Parteien mehrheitlich nicht mehr vertreten fühlen. Die Demonstranten aus ganz unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen hoffen auf eine Kurskorrektur der Politik und können Veränderungen nur erreichen, wenn sich die politische Klasse nicht taub stellt und sich hinter „Sachzwängen“ verschanzt, sondern die mündigen Menschen ernst nimmt. In Sozialbündnissen und -foren und Zukunftszirkeln haben die Demonstranten selber Alternativvorschläge aus einer anderen Denkweise und Gesinnung entwickelt, die in der politischen Debatte ernst genommen werden sollten.

Die Montagsdemonstrationen geschehen in einer Zeit, in der die Politik mit der inneren Erosion der parlamentarischen Parteiendemokratie eher Lethargie und lähmenden Konformismus verbreitet. Demgegenüber macht die zivilgesellschaftliche Protestbewegung deutlich, dass in einer Demokratie immer Alternativen möglich sind zu dem fundamentalistischen Anspruch, alles nach einem einzigen wirtschaftlichen Prinzip formen zu wollen. Die großen gesellschaftlichen Veränderungen gingen selten von der offiziellen Politik aus, sondern stets von den zivilgesellschaftlichen Bewegungen: der Ökologiebewegung, der Friedensbewegung, den Freiheitsbewegungen, der Frauenbewegung und der sozialen Bewegungen mit der Kraft von Ideen und Visionen.

Zukunftsträchtige Entscheidungen bedürfen der Beteiligung aller Betroffenen in einer lernenden Gesellschaft

Wo wirklich zukunftsträchtige Entscheidungen anstehen, die alle Mündigen betreffen, sollen diese Entscheidungen auch von den betroffenen Menschen selber getroffen und beeinflusst werden können, erst recht in einer Zeit, wo die wirtschaftliche und seelische Not am größten ist. Es reicht nicht aus, dass ein paar Politiker Wege und Mittel finden, dass ein Parlament das beschließt, was sie haben wollen, sondern da ist etwas mehr an Beteiligung notwendig. Die Montagsdemonstrationen tragen dazu bei, dass die Gesellschaft zu einer lernenden, sich verändernden und im Hinblick auf Werte offenen Gesellschaft wird in Bezug auf ihre eigenen sozialen Angelegenheiten, wie sie es im Hinblick auf wirtschaftlich-technischen Fortschritt schon lange ist.

Dann besteht auch eine perspektivische Zukunftshoffnung zur Überwindung der übergeordneten „Sachzwänge“, die Erhard Eppler so formuliert: „Der Neoliberalismus muss und wird sich totlaufen wie alle Ideologien mit verkürztem Menschenbild. Dann wird es möglich, dem global agierenden Kapital einen politischen Rahmen zu setzen, einen sozialen und einen ökologischen. Die Initiative dazu muss von Europa ausgehen. Bis dahin müssen wir lernen, dass der Staat, zumal der demokratische Rechtsstaat, mehr ist als ein Markthindernis.“ Diesen Lernprozess wollen die Montagsdemonstranten mit anstoßen, statt sich von den Politikern als „uneinsichtiges Volk“ belehren zu lassen über die angebliche Notwendigkeit und Alternativlosigkeit der politischen Reformrezepte gegen das Volk, dessen vorgeworfenes „Anspruchsdenken“ weit hinter dem seiner Entscheidungsträger zurückbleibt. Darum erklingt erneut der Ruf „Wir sind das Volk!“ aus der zweiten Szene des ersten Aktes in „Dantons Tod“ von Georg Büchner. Die friedlichen Proteste sind erst der Anfang der zeitgemäßen Eigeninitiativen der Zivilgesellschaft: es ist Zeit für Montagsdemonstrationen - sie machen den Staat und die Gesellschaft reicher durch ihr menschliches Sozialkapital.