Wilhelm Neurohr

Wahlforscher prognostizieren einer linken Wahlalternative zu den neoliberalen Einheitsparteien SPD/CDU/FDP/Grüne derzeit ein Wählerpotential von bis zu 20%. Aktuelle Umfragen in der Ruhrgebietsstadt Dortmund haben ergeben, dass die dort regierende SPD auf kommunaler Ebene gegenüber den Kommunalwahlen 1999 nochmals um weitere 10% auf nur noch 31% absacken wird. In mehreren Ruhrgebietsstädten bilden sich derzeit in Vorbereitung auf die Kommunalwahlen alternative Wählerlisten aus den sozialen Foren und Bündnissen heraus, so auch in Herne und Recklinghausen. Aber auch mit Blick auf die Landtagswahl in NRW 2005 und die Bundestagswahl 2006 formiert sich eine „Wahlalternative 2006“ im Schulterschluss mit der „Initiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“, die sich zu einem zweiten Regionaltreffen im Düsseldorfer DGB-Haus am 24. Mai und zu einem Bundeskongress am 20. Juni in Berlin trafen, mit bereits 7000 interessierten Mitstreitern im Rücken.

Wie sehr die etablierte Regierungs- und Parteipolitik derzeit am Erleben der Bevölkerung vorbeigeht, zeigt eine neuere Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung , wonach nur 18% vom Programm einer Partei überzeugt sind, hingegen fast 40% ihren Protest ausdrücken wollen. Weit über 80% fordern laut einer Umfrage des Institutes Forsa mehr direkte Demokratie.

Sogar der scheidende Bundespräsident Johannes Rau stellte in seiner letzten Berliner Rede fest: „Noch nie in der deutschen Nachkriegsgeschichte haben so wenig Menschen Vertrauen in die Politik einer Regierung gehabt, und noch nie haben so wenig geglaubt, die Opposition könne es besser.“ Kein demokratischer Staat halte es auf Dauer aus, wenn sich immer stärker eine Haltung des „wir da oben, ihr da unten“ festsetze. Rau weiter: „Wir müssen den Primat der Politik wiedergewinnen – einer Politik, die sich an Werten orientiert und die sich nicht darauf beschränkt, tatsächliche oder vermeintliche Sachzwänge zu exekutieren. Politik muss wieder zeigen, dass es sie gibt und dass sie etwas für die Menschen bewirken kann.“ Der Bundespräsident forderte nachdrücklich, es müsse in der Politik deutlich werden, dass es noch Zukunftsentwürfe und den nötigen Gestaltungswillen gebe.

Diesen Gestaltungswillen haben mittlerweile Menschen auf allen Ebenen, von der Kommunalpolitik bis zur Landes- und Bundespolitik, mit ihrer Initiative zur Gründung von alternativen Wählerlisten als Sprachrohr sozialer Bewegungen – quasi als Verlängerung der Zivilgesellschaft hinein in die Parlamente. Vor dem Hintergrund des parlamentarischen Entwicklungsweges der Grünen oder der PDS im Berliner Senat, die einst mit einem ähnlichen Anspruch angetreten waren und dann doch im Lager der neoliberalen Einheitsparteien landeten, geht es diesmal nicht um die Gründung einer Partei alten Stils. Dies zeigt auch das Wahlprogramm des Recklinghäuser Wahlbündnisses „BASTA – Bündnis für soziale Gerechtigkeit und Demokratie“, als ein Zusammenschluss von sozial engagierten Menschen aus allen Gruppen, Stadtteilen und Bevölkerungsschichten, die gemeinsam einen Politikwechsel anstreben: „Wir wenden uns gegen den verfassungswidrigen Ausverkauf unserer Stadt mit ihren sozialen und kulturellen Einrichtungen und gegen den schleichenden Niedergang unserer demokratischen Rechte.“ Sie wollen kein verordnetes Gegeneinander, sondern ein solidarisches Miteinander in der Stadt, um der zunehmenden Spaltung der Bevölkerung entgegenzuwirken, wie sie sich im Nord-Süd-Gefälle der armen und reichen Stadtteile in Recklinghausen manifestiert.

„Dies ist unsere Stadt und wir sind das Volk – BASTA“ so lautet die Parole. „Heraus aus der Zuschauerdemokratie: Eine andere Stadt ist möglich – BASTA“. Umfassend werden die Ziele und Leitbilder für Recklinghausen dargestellt für eine menschliche und soziale Stadt, für ein demokratisches und solidarisches Gemeinwesen, für eine öffentliche Stadt und gegen die Privatisierung der öffentlichen Güter und der Daseinsvorsorge. Eine lebendige, gerechte und verträgliche Stadt mit Elementen direkter Demokratie und mit einer fairen politischen Streitkultur wird angestrebt, zugleich eine familien- und kinderfreundliche sowie gebildete und gesunde sowie ökologisch nachhaltige Stadt, nicht zuletzt auch eine wohnliche und zukunftsfähige Stadt, die durch eine am Gemeinwohl orientierte Stadtökonomie zu einer wirtschaftlich tragfähigen und finanziell lebensfähigen Stadt wird, mit einem demokratischen Beteiligungshaushalt, neuen Einnahmequellen und regionalen Wirtschaftskreisläufen, ohne alle Lebensverhältnisse zu ökonomisieren.. Eine Stadt der Arbeit mit einem neuen Arbeits- und Einkommensbegriff und eine Stadt der Kultur und der kulturellen Vielfalt wird skizziert, konkrete Visionen für eine Stadt der neuen Werte und gegen den kommunalen Ausverkauf.

Eine Zusammenarbeit findet statt mit dem gesamten zivilgesellschaftlichen Spektrum der Stadt, wie sie im Recklinghäuser Sozialforum oder bei attac zusammentrifft, von den Gewerkschaften über die Sozialverbände und kirchlichen oder karitativen Organisationen bis hin zu den Bürgerinitiativen und den Akteuren der Lokalen Agenda 21, den Frauen-, Friedens- und Arbeitsloseninitiativen sowie Dritte-Welt-Gruppen und Migrantengruppen oder Künstlerzirkeln. Im Stadtrat will man weder Mehrheitsbeschaffer sein noch nach Posten, Geld oder Machtmissbrauch streben, sondern ausschließlich Lobby für die Verlierer des Lobbyismus sein, die selber keine Lobby haben – ohne dabei Koalitionen oder Allianzen mit den Ratsparteien einzugehen, vielmehr fallbezogene Sachentscheidungen treffen im Sinne eines lebendigen Parlamentarismus, nach vorheriger Konsultation der betroffenen Bürgerinnen und Bürger in Einwohnerversammlungen , Befragungen usw.

In drei gut besuchten öffentlichen Versammlungen wurden in demokratischen Verfahren Kandidatinnen und Kandidaten für alle 29 Wahlbezirke in der Stadt nominiert sowie eine Kandidatenliste aufgestellt. Die Lokalpresse schenkte der neuen Wählerinitiative breite Beachtung und positive Berichterstattung – und sogar die Bürgermeisterkandidatin der oppositionellen SPD in Recklinghausen, die sich von ihren eingefleischten Parteifreunden mit ähnlich basisdemokratischen Ideen einschließlich dem Vorschlag des Beteiligungshaushaltes nach dem Vorbild von Porto Allegre wohltuend abhebt, entdeckte in vielen Programmpunkten von BASTA mehr ideelle Gemeinsamkeiten als bei ihrer eigenen Partei, die ohnehin nicht auf eine eigene Mehrheit in der Stadt rechnen kann. Es wird bunt und spannend in der kommunalpolitischen Szene des Ruhrgebietes, denn neben BASTA gibt es noch 5 weitere Wählergruppierungen (im bürgerlichen Lager) jenseits der etablierten Parteien in Recklinghausen, deren Dämmerung unübersehbar ist. Ein Politikwechsel steht bevor – so oder so. Für enttäuschte Nichtwähler gibt es jedenfalls wieder eine echte Wahlalternative mit außerparlamentarischen Wurzeln und soziale Orientierung, mit Verankerung in der Bevölkerung..