Wilhelm Neurohr

ver.di-Zukunftskongress /Regionales Sozialforum Stuttgart

Kommerzialisierung des öff. Gemeinwesens und das drohende Ende der kommunalen Selbstverwaltung

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter!

Wenn wir in diesen 2 Tagen gemeinsam Zukunftsvisionen entwickeln wollen für die Erhaltung und Gestaltung des öffentlichen und kommunalen Gemeinwesens, ist es zunächst hilfreich, das Gegenwartsszenario anzuschauen, um sich die realen Ausgangsbedingungen für Ideen und Aktionen vor Augen zu führen.

Die verheerenden Folgen der von oben diktierten Zwangsprivatisierung

Vorige Woche wurde der Weltsozialbericht von 28 Nichtregierungsorganisationen vorgelegt. Darin wurde die Privatisierungswelle bei den öffentlichen Dienstleistungen weltweit als Hauptursache ausgemacht für das Nichterreichen der UN-Ziele, den Hunger und die Armut zu halbieren und die Bildung und Gesundheit zu verbessern. Die Kluft zwischen arm und reich wird im Gegenteil immer größer; eine Minderheit gewinnt mehr Lebensqualität, die Mehrheit wird abgekoppelt. Eine solche Entwicklung droht uns auch in den reichen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften.

Die Privatisierung in Form von Kommerzialisierung hat zur durchgehenden Verschlechterung der Lebensverhältnisse und der Lebensqualität geführt. Die Preise wurden erhöht, der Service verschlechtert, insbesondere auch bei Wasser, Gesundheit und Energieversorgung. Nichtprofitable Sozial- und Kultureinrichtungen werden geschlossen.

Das Konkurrenz- und Wettbewerbsprinzip verhindert überdies eine sozial und ökologisch gerechte Preisgestaltung. Es gewährleistet keine Qualitätssicherung und Versorgungssicherheit, wie wir leidvoll bei Bahn und Post sowie im kommunalen Sektor erleben können.

Trotzdem wird die vor 5 Tagen von der Bundesregierung beschlossene vorgezogene Steuersenkung u.a. mit Privatisierungen gegenfinanziert, sonst werden den ohnehin gebeutelten Kommunen 3,8 Mrd. € zusätzlich in den Kassen fehlen. Die weitere Gegenfinanzierung neben der Verschuldung ist der weitere Sozialabbau.

Diese Regierung kann man nur konfrontieren mit dem Ausspruch des großen Staatsrechtslehrers aus dem Altertum, des Hl. Augustinus, der sagte: „Ein Staat, dem es an sozialer Gerechtigkeit mangelt, was ist der anderes als eine große Räuberbande?“

Der eher konservative Ministerpräsident dieses Landes Baden-Württemberg hat vor einem Jahr seine große Sorge geäußert über die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. Er sprach sich gegen den Zwang aus, wichtige Maßnahmen der Daseinsvorsorge der Gemeinden zu privatisieren und der Marktbeliebigkeit zu überlassen. Die bewährten Aufgaben und Angebote öffentlicher Dienstleistungen durch die Kommunen und gemeinnütziges Bürgerengagement dürften nicht angetastet werden. (Letzteres ist ja hier in Baden-Württemberg besonders ausgeprägt mit den Lernnetzwerken der Bürgerkommunen und der Ehrenamtlichen).

Anlass dieser besorgten Äußerungen war ein ebenso besorgtes Schreiben, das die kommunalen Spitzenverbände in Baden-Württemberg, - also der Städtetag, der Landkreistag und der Städte- und Gemeindebund verfasst hatten. Hintergrund war das Welthandelsabkommens GATS, das ja zum Ziel hat, ab 2005 sämtliche Dienstleistungen – also auch die öffentlichen und zwischenmenschlichen Dienstleistungen – erstmals in der Menschheitsgeschichte zur Handelsware zu erklären, nach dem internationalen Handels und Wettbewerbsrecht.

Erstrebt wird damit eine Zwangsprivatisierung und das Recht der kommerziellen Unternehmen, auch die Versorgungseinrichtungen des Staates und der Kommunen unter bestimmten Voraussetzungen zu übernehmen (sobald in einem der 149 beteiligten Staaten eine öffentliche Dienstleistung privatisiert wurde) – oder deren öffentliche Finanzierung und Aufrechterhaltung zu sanktionieren bzw. die gleichen Subventionen zu erhalten. Damit ist gleichzeitig eine Einschränkung regionaler Wirtschaftsförderung und kommunaler Planungshoheit verbunden. sowie die Gefahr der Zentralisierung, Vereinheitlichung oder Uniformierung von Dienstleistungen durch Monopole zu sehen.

Der Mensch selber wird zur Handelsware und mit ihm die Natur, die Zeit, das geistige Eigentum (TRIPS-Abkommen), mit weiterer Zunahme der in manchen Dienstleistungsbereichen bald wieder sklavenähnlichen Arbeitsverhältnisse. Der Kommerzialisierung und dem Niedergang des Gemeinwesens sind dann Tür und Tor noch weiter geöffnet als bisher schon. Es handelt sich gewissermaßen um einen frontalen Angriff auf Demokratie, Menschenwürde und Solidarität und es wäre der Anfang vom Ende der kommunalen Selbstverwaltung mit ihrer sozialen, politischen und kulturellen Funktion, wie sie Dr. Thomas Böhm in seinem Referat aufgezeigt hat.

Entmachtung der National- und Kommunalparlamente durch die internationale Handelsorganisation und Enteignung von Staat und Kommunen durch die Wirtschaft

Zugleich bewirkt das GATS-Abkommen die Entmachtung der längst amputierten Kommunalparlamente, nachdem bereits ca. 50% aller kommunalen Dienstleistungen und Einrichtungen bereits geschlossen, privatisiert oder eingeschränkt worden sind. An Stelle demokratisch gewählter Gremien vor Ort entscheiden dann internationale Dienstleistungskonzerne und deren Handelsorganisation. Zugleich hätten wir es mit einer Entmündigung der Bevölkerung zu tun.

Es handelt sich de facto um eine Enteignung von Staat und Kommunen durch die private Wirtschaft, obwohl ca. 70% der Bevölkerung mit den öffentlichen Dienstleistungen höchst zufrieden sind, wie regelmäßige Umfragen belegen. Dennoch erleben wir das gebetsmühlenartige Schlechtreden der öffentlichen Dienstleistungen und das Preisen der Privatisierung als Allheilmittel, auch von vielen Kommunalpolitikern selber, die aus neoliberaler Gesinnung ihre Mitgestaltungsmöglichkeiten damit preisgeben.

Aber es kommt noch weiteres Ungemach auf uns zu mit dem geplanten Investitionsschutzabkommen auf der Welthandelskonferenz im September dieses Jahres in Mexiko. Die 149 souveränen Mitgliedsstaaten könnten demnach künftig von den großen Konzernen verklagt werden, wenn sie es wagen, handelshemmende Umwelt- und Sozialgesetze zu erlassen. Das verlangte Herunterschrauben von Umwelt-, Sozial- und Tarifstandards bewirkte ein faktisches Sozialstaatsverbot und einen Angriff auf die Tarifautonomie.

Die Konsequenz für die Zivilgesellschaft kann nur sein, Demokratie und kommunale Selbstverwaltung ganz neu zu erfinden und dabei anzuknüpfen an Ursprung und Keimzelle der solidarischen Lebenshilfe in Städten und Dörfern.

Um dem Ungeist von GATS auf lokaler und regionaler Ebene etwas entgegenzusetzen, planen wir in Recklinghausen in der Alten Feuerwache das zivilgesellschaftliche Projekt „Ethisches Dienstleitungszentrum“ im Rahmen der Lokalen Agenda 21 (nicht zu verwechseln mit des Kanzlers Agenda 2010 zum Sozialabbau). Damit wollen wir ein Bewusstsein bilden für das Wesen und den Grundcharakter von Dienstleitungen von Menschen für Menschen, mit einem vertrauensvollen Vertragswesen, assoziativen Formen der Zusammenarbeit und der Orientierung an den Bedürfnissen nicht des Anbieters, sondern denen des rat- und hilfesuchenden Kunden, Patienten oder Klienten.

Die Verfassungswidrigkeit des GATS-Abkommens und die WTO als selbsternannte Weltaufsichtsbehörde

Daneben versuchen wir zu verdeutlichen, dass GATS eine verfassungswidrige Maßnahme darstellt und werden die gewählten Volksvertreter an ihren auf diese Verfassung abgelegten Eid erinnern, Schaden vom Volk abzuwenden und deren Wohl zu mehren. Darum reichen wir in vielen Kommunen des Ruhrgebietes in diesen Wochen Bürgeranfragen von Attac zu GATS in den Räten ein, die ja noch überwiegend schlafend sind oder das Problem verharmlosen.. Eine Musteranfrage kann ich Ihnen zur Verfügung stellen. Der Bürgermeister von Recklinghausen hat jedoch schon signalisiert, dass er diese Anfrage nicht beantworten und nicht im Rat vorlegen und behandeln will, weil GATS sich angeblich nicht auf die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft beziehe und ein Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 30. 07. 1958 (!) den Gemeinden folglich verwehre, sich damit zu befassen.

Auch die Parlamente in Land und Bund werden bzw. „dürfen“ sich damit nicht befassen, da vor 3 Wochen in die erstmalige EU-Verfassung vor Verabschiedung schnell noch der geänderte Artikel 212 eingefügt wurde, wonach die EU sämtliche Zuständigkeiten für die Handelsliberalisierung erhält, d.h. nationale und kommunale Parlamente bleiben bei den Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen außen vor, wie bisher schon.

Damit bekommt das GATS-Abkommen quasi Verfassungsrang, obwohl damit die nationale Verfassung und die Kommunalverfassung ausgehebelt wird. Damit werden die letzten Grenzen der Globalisierung überschritten, nämlich die Grenzen des Rechtsstaates und die Gemeindegrenzen! Diese sollten aber künftig wieder Zugangstore für Menschlichkeit werden in der globalisierten Welt!

Die WTO-Verträge über die Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte sind verfassungs- und völkerrechtlich unzulässig, da jede demokratische Entscheidung künftig auf den Prüfstand des Wettbewerbsrechtes gestellt wird: Die WTO als selbsternannte Weltaufsichtsbehörde?

Die EU-Kommission und die Bundesregierung befürworten eine Liberalisierung auch bei den gemeinnützigen Bereichen und bei der Wasserversorgung. Der Non-Profit-Sektor ist aber nötig zum gesellschaftlichen Ausgleich, zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und für eine kulturelle Zukunft, mit Integration aller Bevölkerungsgruppen, auch der sozial Schwachen, deren Zahl ja täglich größer wird infolge des Neoliberalismus.

Es stellt sich ernsthaft die Frage, ob nicht wegen der Gefährdung der Verfassung von dem dort verbrieften Widerstandsrecht kreativ gebrauch gemacht werden sollte. Ziviler Ungehorsam ist in Zukunft gefragt! Wir sollten die von der Weltbevölkerung demokratisch nicht legitimierte WTO-Lobby und deren Schiedsgerichte oder Sanktionen ignorieren, wenn wir einfach untersagte öffentliche Dienstleistungen weiterhin selber betreiben.

Der Vorrang des Demokratieprinzips vor dem Ökonomieprinzip zur Gewährleistung der Menschenrechte

Noch gilt bei uns der Vorrang des Demokratieprinzips vor dem Ökonomieprinzip! Die Wirtschaft kann sich nicht einfach an die Stelle des Gesetzgebers setzen und obendrein das Kulturleben vereinnahmen oder ausbluten lassen. Eine Entflechtung von Staat und Wirtschaft tut not! Es kann sich nicht alles den Interessen der Wirtschaft unterordnen. Öffentliche Dienstleistungen sind ja nach ihrem Selbstverständnis gerade solche Dienstleistungen, die sich nicht den Marktgesetzen und dem Profitstreben unterordnen lassen.

Überdies sollten wir die Zuständigkeitsfrage stellen nach dem Subsidiaritätsprinzip: Die untere Ebenen hat Vorrang vor der höheren Ebene bei der Aufgabenerledigung! Und in die kommunale Selbstverwaltung darf laut Gemeindeordnung nur durch Gesetze eingegriffen werden, also nicht durch die WTO.

Öffentliche Dienste sind soziale Errungenschaften, ohne die Demokratie gar nicht möglich ist! Ohne Daseinsvorsorge ist eine Gewährleistung der allgemeinen Menschenrechte nicht möglich, insbesondere nicht der Zugang zu lebensnotwendigen Einrichtungen: medizinische Versorgung, Bildung, Wasser, Wohnung, Energie, Verkehrsmittel usw.

Das Beispiel der privatisierten Post, die den Menschen in den Städten und Gemeinden 60% der Briefkästen demontiert und Nebenstellen geschlossen hat, schlug ja hohe Wellen wegen der unverschämten Begründung: Die Aktionärsinteressen müssten eine weile Vorrang haben vor den Kundenunteressen. Die Gewinnausschüttung für die Aktionäre stieg um mehrere Milliarden € - Shareholder value pur? Damit sägt sich die Post den Ast der eigenen Daseinsberechtigung ab.

Wir wissen inzwischen: Global agierende Dienstleistungskonzerne haben das komplette Dienstleistungsspektrum auch in den Hunderttausenden Kommunen und regionalen Einrichtungen im Visier, die bislang durch die öffentliche Hand, durch freie Träger oder gemeinnützige Einrichtungen in Selbstverwaltung erbracht werden – ein schier unerschöpflicher Dienstleistungsmarkt als Milliardengeschäft. Allein im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie mit der Trinkwasserversorgung hofft man, weltweit 6,5 Billionen Dollar jährlich an den Finanzmärkten erzielen zu können. Wir stehen also erst am Anfang einer großen Privatisierungswelle , obwohl – wie bereits erwähnt - schätzungsweise schon längst 50% der kommunalen Dienstleistungen privatisiert, aufgegeben oder eingeschränkt worden sind oder sich in der Ausgründung befinden.

Wir sollten uns hingegen dafür einsetzen, das Prinzip der Solidarität auf Gegenseitigkeit nicht abzulösen durch das Prinzip der privaten Zahlungsfähigkeit und des Eigennutzes!

Bislang sind öffentliche Dienstleistungen Teil der gemeinsamen Werte in der Europäischen Gemeinschaft und des europäischen Gesellschaftsmodells. Soll das nun der Vergangenheit angehören? Verschaffen wir dem Solidaritätsprinzip wieder eine Zukunft durch eine europäische Wertediskussion!

Vielleicht decken wir auch einfach Korruption rund um das „Europäische Dienstleistungsform“, also der kommerziellen Dienstleistungslobby bei der EU, auf: Der EU-Handelskommissar Pascal Lamy hat bekanntlich zu seinem engsten Berater ausgerechnet einen Vertreter eines großen Dienstleistungskonzerns berufen – ein Zufall? Niemand findet das in Brüssel etwa anstößig, entspricht es doch dem beliebten „Public Private Partnership“, der Partnerschaft zwischen öffentlicher Hand und den privaten Händen in der Tasche.

Die kommerzielle, finanzielle, virtuelle und demokratische Gefährdung der kommunalen Selbstverwaltung

Kein Zufall auch, dass durch Hans Eichels Steuerreform die Gemeinden auf 23 Mrd. € Körperschaftssteuer und 5 Mrd. € Gewerbesteuer als lebensnotwenige Einnahmequelle verzichten mussten. Meine These: damit sollen die Gemeinden zur Privatisierung und zum Stellenabbau

im öffentlichen Dienst gezwungen werden, um den Kommerzialisierungsprozess voranzutreiben und zu beschleunigen!

Neben den internationalen Abkommen müssen wir also noch zwei weitere große Gefährdungen der kommunalen Selbstverwaltung sehen: Erstens die akute finanzielle Gefährdung der Gemeinden, zu denen ich noch einige weitere Sätze sagen werde, sowie zweitens die virtuelle Gefährdung der Kommunalverwaltungen, auf die ich anschließend noch aufmerksam machen möchte. Danach sollten wir auf die größte Gefährdung zu sprechen kommen, nämlich die Gefährdung durch passive Bürgerinnen und Bürger, die das arglos und klaglos hinnehmen, statt initiativ zu werden. Es geht ja um die Wertschätzung des öffentlichen Gemeinwesens und seine Unterstützung durch die betroffenen Menschen.

Als vorauseilende Reaktion und im Vorgriff auf globale Bestrebungen ist der Ausverkauf von Staat und Kommunen durch neoliberale Kräfte längst eingeleitet und dramatisch fortgeschritten, wiederum in verfassungswidriger Weise. Die Verarmung der öffentlichen Haushalte zugunsten privater Reichtums- und Vermögensentwicklung ist politisch gewollt und keine naturgesetzliche Notwendigkeit oder Zwangsläufigkeit.

Bund, Länder und Gemeinden zusammen haben 1,2 Bio. € Schulden (2001). Demgegenüber ist in der gleichen Zeit das Geldvermögen in privater Hand auf 5,8 Bio. € angewachsen! Das fehlende Geld für Gemeinschaftsaufgaben ist also in Wirklichkeit auf unseren privaten Konten und in unseren Taschen verfügbar – wenn auch mehr konzentriert auf die inzwischen 775.000 Vermögensmillionäre in Deutschland.

Deren Besteuerung in der Steueroase Deutschland wird zum Tabu erklärt: Die 31% Erwerbstätigen mit ihrem sinkenden Arbeitseinkommen finanzieren im wesentlichen das öffentliche Gemeinwesen, die Sozialkassen und das Hauptsteueraufkommen.

Die Bedeutung der örtlichen und regionalen Ebene für eine soziale Zukunftsgestaltung in sozialen Verantwortungsgemeinschaften

Nationale Regierungen und Kommunalparlamente sind über das Argument des globalen Standortwettbewerbes erpressbar geworden. Sie setzen der Dominanz der Wirtschaft rechtlich nichts entgegen und wetteifern mit Deregulierungen zu Lasten des öffentlichen Gemeinwesens. Dadurch ist die Existenzfähigkeit der Städte, Gemeinden und Landkreise durch eine scheinbar ausweglose Finanzsituation so gefährdet wie nie zuvor – obwohl die örtliche und regionale Ebene für eine verantwortliche Lebensgestaltung in sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Gestaltungsräumen noch nie so wichtig war wie jetzt in Zeiten der Globalisierung, mit zunehmender Bedeutungslosigkeit der staatlichen Grenzen und Zuständigkeiten.

In den Städten und Dörfern als soziale Keimzellen des Gemeinschaftslebens hat ja die kulturelle, soziale und wirtschaftliche Entwicklung ihren Ursprung und Ausgangspunkt. Nur von hier aus kann eine soziale und kulturelle Erneuerung in erster Linie erfolgen, von den örtlichen und regionalen Verantwortungsgemeinschaften. Eine Veränderung und Weltverbesserung findet entweder durch die handelnden Menschen vor Ort statt oder sie findet gar nicht statt. Bloße Forderungen an höhere Instanzen helfen nicht weiter.

Doch die finanziellen Ausgangsbedingungen sind vor Ort nicht rosig: Das Gesamtdefizit aller kommunalen Haushalte in Deutschland betrögt inzwischen über 11 Mrd. €. Noch 1998 hatten sie einen Überschuss von 2 Mrd. €. Viele Gemeinden können keinerlei Investitionen mehr tätigen als indirekte Folge des Marktliberalismus und –fundamentalismus. Nicht wenige Städte stehen faktisch vor dem Ruin. Die Zeitungsschlagzeilen vom Pleitegeier über den Rathäusern und vom Offenbarungseid der Gemeinden sind ja nicht übertrieben und allseits bekannt.

Der Ausverkauf von Staat und Kommunen ist längst im Gange

In NRW sind 90% der Städte nicht mehr in der Lage, ihre Ausgaben über reguläre Einnahmen zu bestreiten. In diesem Jahr fehlen 557 Mio. €, die nur über Kredite oder Verkauf von Vermögen aufzubringen sind. Aus meiner Region Ruhrgebiet nenne ich einige Beispiele: Die Großstadt Duisburg finanziert ihre laufenden Personalkosten bereits rechtswidrig über Kredite. Die Großstadt Gelsenkirchen hat Haushaltslöcher von rund 50 Mio. € bei gleichzeitig 17,3 Arbeitslosen. Der dort ansässige Energie-Konzern E.on verlangte von der Stadt 30 Mio. € Körperschaftssteuern zurück nach Nutzung des Privilegs, Firmenbeteiligungen steuerfrei abzugeben, wie durch Finanzminister Hans Eichel eingeführt.

9 Städten im krisengeschüttelten Kreis Recklinghausen, in dem ich beruflich tätig bin, werden nicht einmal mehr die Haushaltssicherungskonzepte von den Aufsichtsbehörden genehmigt – ein Armutszeugnis für den größten Kreis der Bundesrepublik und die fünftgrößte Gebietskörperschaft nach Berlin, Hamburg, München oder Köln (mit 7000.000 Einwohnern).

Der kommunale Gestaltungs- und Handlungsspielraum sowie der politische Entscheidungsspielraum vor Ort ist folglich nahe null. Alle Sparbemühungen sind ausgereizt, Personalkosteneinsparungen bundesweit in 6-stelliger Höhe bereits erfolgt und interkommunale Zusammenarbeit vielfach ausgeschöpft. Der perspektivlose Ausverkauf von Staat und Kommunen ist also längst in vollem Gange – das brauche ich Ihnen hier im Saal nicht zu erzählen.

Man muss schon Masochist sein, um unter diesen widrigen Umständen überhaupt noch Kommunalpolitik verantworten zu wollen. „Tafelsilber“ wird verkauft, wertvolle Grundstücke, Gebäude oder Anteile an regionalen Versorgungsunternehmen werden verscherbelt, mit Verlust politischer Einflüsse und Gestaltungsmöglichkeiten. Eine Gemeinde ohne eigene Einrichtungen, Immobilien und Vermögen ist jedoch ein Papiertiger.

Viele Städte schließen Bäder, Büchereien, Jugendhäuser, Theater und nichtkommerzielle Angebote usw. In Recklinghausen denkt man sogar über die Kommerzialisierung der Trauerhallen und Friedhöfe nach. Die Bestattung ist dann für Normalsterbliche kaum noch bezahlbar und Tod und Krankheit werden zur Handelsware? Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser verkommen, weil kein Geld für die Renovierung vorhanden ist. Nahverkehr wird reduziert und Straßen und Parks verschmutzen und vergammeln, weil wegen der Sparmaßnahmen nicht genügend Personal vorhanden ist.

Cross-Border-Leasing: In einem Akt der Verzweiflung wird kommunale Infrastruktur nach Amerika verleast

Deshalb flüchten sich mittlerweile 150 finanzschwache Kommunen in Deutschland in einem Akt der Verzweiflung in windige Leasing-Geschäfte mit amerikanischen Firmen, auch ein Thema hier in Stuttgart, wie ich mir habe sagen lassen. Ob Abwasserkanalisation, Kläranlagen, Schulen, Stadthallen, Rathäuser, U-Bahn-Strecken oder sonstige Infrastruktur – alles wird hin- und herverleast für lange Laufzeiten, mit unvertretbaren Risiken für die Kommunen in umstrittenen „Knebelungsverträgen“.

Durch diese dubiosen und unseriösen Steuertricke im Rahmen des Cross-Border-Leasing wollen die Kommunen einige Millionen Einnahmen erzielen für ein laufendes Haushaltsjahr zum Stopfen von Löchern – wie gewonnen, so zerronnen: im nächsten Jahr dann das gleich Problem. Die eigentlichen Gewinner sind die Arrangeure dieser trickreichen Steuerdeals: Finanzmakler, Anwälte, Bankberater, Wertgutachter usw., die fast ebensoviele Millonensummen kassieren in zweistelliger Höhe.

Den schwarzgewandeten Finanztricksern im Nadelstreifenanzug – wie aus dem Märchenfilm von Momo – vertraut man (mit ihren 1000-seitigen kleingedruckten Lockverträgen in englischer Sprache und nach amerikanischem Recht) mehr als den eigenen kreativen Fähigkeiten zu einer wirksamen Gemeindefinanzreform. Es sind also nicht die Retter und Helfer der Kommunen, sondern ihre Verführer und Gegner, die sich in einem trojanischen Pferd verstecken.

Statt an den eigentlichen Problemursachen anzusetzen, kuriert man an den Symptomen und riskiert das Vertrauen der Bevölkerung, die Steuermoral, die gute Sitte und die Amtshaftung, bei unvertretbaren Risiken. Allein 20 Kommunen in NRW haben so 350 Mio. € in ihre leeren Kassen gespült, gegen den teilweise erbitterten Widerstand der Bürgerinnen und Bürger gegen diesen kommunalen Ausverkauf ihres Eigentums, das sie durch Gebühren, Steuern und Anliegerbeiträge finanziert haben.

Die Stadt Aachen hat schon Schiffbruch erlitten und fast 10 Mio. € auf Sand gesetzt, nachdem der ^Deal geplatzt war. Der Traum vom schnellen Geld wurde zum Alptraum.

Bevor ich versuche, nach dieser bedrückenden Situationsbeschreibung auch erste Zukunftsperspektiven zu skizzieren und mögliche Wege aus der kommunalen Globalisierungsfalle aufzuzeigen – wir sind ja in einem Zukunftsforum mit Blick nach vorne – möchte ich zuguterletzt noch auf eine schleichende Entwicklung hinweisen, die ohne Beachtung in der Öffentlichkeit an rasantem Tempo gewinnt.

Ich spreche von einem Angriff auch auf die sonstigen, klassischen Verwaltungsdienstleistungen der Kommunen bis hinein in den hoheitlichen Bereich – und von einer versuchten Auflösung der Gemeindeebene und ihre unsichtbare Verschmelzung mit kommerziellen Dienstleistern. Die Rede ist vom „virtuellen Rathaus“ via Internet, vom Electronic Government in Partnerschaft zwischen öffentlicher Hand und privaten Unternehmen, Public private Partnership genannt.

Dahinter steckt die technokratische Vision von der papierlosen zum mitarbeiterlosen Verwaltung, auf jeden Fall aber das größte Personaleinsparungsprogramm und Aufgabenverlagerungskonzept in der kommunalen Verwaltungsgeschichte, mit gleichzeitiger Auflösung kommunaler Zuständigkeitsgrenzen, deren Auswirkungen über diejenigen von kommunalen Neugliederungen hinausgehen könnten.

Die Gemeinde-Ebene löst sich quasi im virtuellen Netzwerk auf und verliert ihre Zuständigkeits- und Ortsgebundenheit. Die kommunalpolitischen Kontroll- und Einflussmöglichkeiten schwinden. E-Governemnt und E-Demokratie werden zu einem deutlichen Wandel in der Rolle des Staates und der Kommunen führen. Die sozialen und kulturellen Gestaltungs- und Bezugsräume verlieren ihre Bedeutung.

Die erheblichen Investitionen in die elektronischen Netzwerke – Staat und private Konzerne finanzieren je zur Hälfte 23 Mio. € für ein erstes bundesweites Modellprojekt Media@com - mit Abhängigkeiten von kommerziellen Programm- und Netzanbietern und kostenträchtigen Lizenzen sowie Systemanpassungen – sollen durch die erstrebten Personaleinsparungen reichlich wett gemacht werden.

Auf diesem Wege drängen die kommerziellen Dienstleistungsanbieter in die letzte Domäne der Verwaltung, bis hinein in die bislang hoheitlichen Bereiche, unter Lockerung des Datenschutzes und Vernachlässigung von Bürgerrechten – mit Tendenzen auch zur Zentralisierung und Vereinheitlichung von zu erbringenden Dienstleistungen. Die nicht mehr ortsgebundene digitale Bürgerakte und der gläserne Bürger und Mitarbeiter rücken näher.

Dadurch lässt auch die Bindung und Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit ihren kommunalen Einrichtungen in ihrem Rathaus nach, die demnächst über ein gemeinsames Internet-Portal aller föderalistischen Behördenebenen, der Fachbehörden und der privaten Anbieter gar nicht mehr unterscheiden können, ob sie sich in einem kommerziellen oder öffentlichen Raum und Angebotsspektrum befinden und wer dahintersteckt. Die Verschmelzung von Staat und Wirtschaft schreitet weiter voran, obwohl deren Entflechtung notwendig wäre, und die Software wird zum Kulturgut, das nur einer Minderheit von Menschen weltweit zugänglich ist.

In Recklinghausen entwickeln wir ein unabhängiges Internet-Portal „Publi-City“ als Plattform der vernetzten Zivilgesellschaft in den Kommunen, als Bürgerforum für alle Initiativen vor Ort, quasi als Reaktion auf E-Government. Denn noch nie war die kommunale Selbstveraltungsebene und damit die Demokratiegestaltung vor Ort so wichtig wie heute. Nur von hier aus kann eine soziale, wirtschaftliche und kulturelle Erneuerung erfolgen: in den regionalen Gemeinschaften, die global denken und lokal handeln und sich vernetzen.

Mit praxistauglichen Zukunftsmodellen gegen die Kommerzialisierungswelle

Deshalb sind ja auch diese regionalen Sozialforen und Zukunftskongresse so wichtig! Wir müssen Demokratie und Selbstverwaltung immer wieder ganz neu erfinden und andersartig gestalten als bisher. Denn die Kommerzialisierungswelle überrollt die Kommunen zu einem Zeitpunkt, an dem nicht nur eine Neubesinnung auf die gemeinnützig orientierte Gemeinwesenarbeit in den örtlichen Gemeinschaften stattfindet und die ehrenamtliche Arbeit von 40% der Bevölkerung für das Funktionieren des örtlichen Gemeinwesens sorgt, sondern wo sich auch immer mehr Bürger z.B. im Zuge der Bürgerkommune oder der lokalen Agenda 21 zu Eigenverantwortung und Eigeninitiative bereitgefunden haben – oft gegen den Widerstand kommunaler Entscheidungsträger.

Eine jetzt fällige soziale, kulturelle und ökologische Neuorientierung der Gesellschaft bedarf ja der räumlichen Nähe und Überschaubarkeit sozialer Beziehungen und Verantwortungsbereiche in direkter Menschenbegegnung. So können wir auch das Ohnmachtsgefühl überwinden in Anbetracht der hereinbrechende Globalisierungseffekte.

Wir brauchen aber neue gesamtgesellschaftliche Zukunftskonzepte und Praxismodelle, die nicht aus einer ideologischen Mottenkiste des 19. und 20. Jahrhunderts stammen, aus denen ja die politischen Parteien übriggeblieben sind. Diese betrachten ihre Sichten und Konzepte und ihre Existenzberechtigung wie eine naturgesetzliche Notwendigkeit. Doch alles, was von Menschen ausgedacht und eingefädelt worden ist, das ist auch durch Menschen wieder änderba!

Die nahezu gleichgeschalteten Parteien und Medien erdreisten sich, die alles beherrschende neoliberale Ideologie mit dem Modernisierungs- und Reformbegriff zu etikettieren. Eine soziale Zukunftsvision ist aber nicht unmodern. Global denken und lokal handeln heißt ja auch, sich nicht nur für den fernen Regenwald verantwortlich zu fühlen, sondern zunächst der eigenen Verantwortung vor Ort gerecht zu werden. Das ist viel schwieriger als eine bloße Demonstration gegen globale Fehlentwicklungen, obwohl es unverzichtbar ist, mit der gesamten zivilgesellschaftlichen Bewegung z.B. das GATS-Abkommen zu verhindern.

Wir müssen aber auch vor Ort bei den Menschen die soziale, kulturelle und politische Bedeutung der öffentlichen Daseinsvorsorge neu ins Bewusstsein heben. Schließlich sollten wir dann in ganzheitlichen Zusammenhängen ein solidarisches und soziales Gemeinwesen sozusagen neu erfinden, nachdem die Verteidigung des ziemlich zerstörten alten alleine nicht von Erfolg gekrönt ist. Das europäische Sozialforum der Zivilgesellschaft in Florenz hat ja voriges Jahr die wesentlichen öffentlichen Dienstleistungen formuliert, auf die es ankommt zur Sicherung von Menschenrechten und Menschenwürde.

Der Mensch im Mittelpunkt: Eine Wende findet durch die beteiligten Menschen vor Ort oder gar nicht statt

Die Wende hin zu einer anderen, besseren Welt, in welcher der Mensch im Mittelpunkt steht, findet entweder, wie gesagt, vor Ort statt und wird von den Menschen vor Ort gestaltet – oder sie findet gar nicht statt.

Wir brauchen wieder zukunftsfähige Städte und Gemeinden durch eine Reform des Föderalismus, zur Stärkung der lokalen Vor-Ort-Initiativen mit lokalen Einnahmequellen, auch eine andersartige Reform der Sozialhilfe-Finanzierung und der Steuern durch gerechte Besteuerung und Heranziehung aller Einkommensarten, ferner eine Besteuerung des gehobenen Konsums und verbrauchsabhängige Sozialabgaben, die nachher Prof. Spehl in seinem Beitrag thematisieren wird. Das wird ja auch Thema morgen in unserem Workshop zur Gemeindefinanzierung sein, während derzeit auf den Schultern der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger die Haushaltssanierung erfolgen soll.

Die größte Gefährdung des kommunalen Gemeinwesens wäre, wie gesagt, das Desinteresse und die Gleichgültigkeit oder auch die Ahnungslosigkeit der Menschen gegenüber den Gefährdungen ihrer Existenzbedingungen auf der Ebene der kommunalen Selbstverwaltung. Deren Wertschätzung steigt hoffentlich in dem Maße, in dem diese in Gefahr ist. So sollten wir die Bedrohung als eine Chance zur Neubesinnung begreifen und als Aufruf zum Handeln!

Bevor wir also die Welt weiterentwickeln, müssen wir uns selber entwickeln und bewegen – und auch den Dienstleistungsgedanken neu bewegen, den Demokratiegedanken erneuern und ausweiten, die Finanzierungsfrage solidarisch lösen usw.

Dazu stelle ich hier einmal 3 Impulsfragen in den Raum:

  1. Wie begegnen wir der globalen Gefährdung der Demokratie auf allen Ebenen und wie gestalten wir ihre Wiederbelebung in kommunalen Gemeinschaften und weltweiten Netzwerken unter Einbeziehung von Elementen der direkten Demokratie – auch unter Nutzung elektronischer Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten, losgelöst von kommerziellen Netzanbietern?
  2. Wie lösen wir europaweit die Finanzierungsfrage des örtlichen Gemeinwesens, beginnend beim ATTAC-Vorschlag für die Tobinsteuer und unter Einbeziehung z.B. der Idee der Bertelsmann-Stiftung für eine Kombination von lokaler Wirtschaftssteuer und einer andersartigen Bürgersteuer, in Verbindung mit einer Änderung von Grundsteuer und Gewerbesteuer sowie des Bodenrechtes? Und wie sichern wir die Mitgestaltungsmöglichkeiten bei der Haushaltsplanung und der Verwendung unserer Steuergelder auf der lokalen Ebene, z.B über das Beteiligungsprojekt „Bürgerhaushalt“ (darüber morgen mehr im Workshop 7).
  3. Wie kommen wir zu einer eigenverantwortlichen Wahrnehmung von öffentlichen Gemeinschaftsaufgaben im Sinne der „Bürgerkommune“ in örtlichen und regionalen Verantwortungsketten mit Eigeninitiative – und das ganze im Bewusstsein der Individualisierung der Menschen und einer neuen selbstbestimmten Gemeinschaftsfähigkeit? Ich erwähne neben dem Stichwort Bürgerkommune auch die „Bürgerstiftung“.

Auf lokaler Ebene individualisiert sich die globale Verantwortung

Auf lokaler Ebene individualisiert sich die globale und finanzielle Verantwortung in einem Wirtschaftssystem der totalen Verantwortungslosigkeit und des Egoismus. Die Idee der Bürgerstiftung, der Stadtstiftung oder Gemeinschaftsstiftung für gemeinnützige Aufgaben auf lokaler oder regionaler Ebene kann einen Teil der in private Taschen geflossenen öffentlichen Gelder wieder reaktivieren. Hierbei sollten wir auch nachdenken über Alternativen zu nur staatlichen oder nur kommerziellen Dienstleistungen in Form von mehr selbstveralteten Einrichtungen.

Bürgerengagement und Bürgerbeteiligung sollten gestärkt werden durch eine „lokale Demokratiebilanz“. Letztlich brauchen wir aber ein ganz neues Verständnis von unserer künftigen Dienstleistungs- und Arbeitsgesellschaft und eine andersartige Zukunftssicherung der Sozialsysteme insgesamt unter den globalen Bedingungen, über die ja anschließend Prof. Spehl sprechen wird.

Wollen wir an den Ursachen dieser aufgezeigten Probleme ansetzen und nicht nur an den Symptomen kurieren wie die Parteipolitiker mit ihren ideologischen Scheuklappen, dann müssen wir im wesentlichen die drei von mir aufgezeigten akuten Gefährdungen der kommunalen Selbstverwaltung im Gesamtkontext und als Ausgangssituation in den Blick nehmen und echte Alternativen entwickeln.

Abschließend will ich noch einige konkrete Ideen schlagwortartig skizzieren, weil wir das ja morgen in den Foren inhaltlich vertiefen und zukunftsfähige Alternativen kreativ erarbeiten wollen:

  • Wer hindert uns eigentlich daran, sich den kommerziellen Dienstleistungen der Konzerne zu entziehen durch eine Art Dienstleistungsboykott an vielen Orten, der zu Erschütterungen führen kann? Der Gewerbe- und Handelsfreiheit steht ja die Konsumfreiheit gegenüber! Nicht wir sind ja von den Konzernen abhängig, sondern die Konzerne von den Verbrauchern und Arbeitnehmern. Wir sind nicht gezwungen, alle kommerziellen Dienstleistungen abzunehmen oder ihnen den Weg zu bereiten. Selbst das Monopol der großen Energieversorger wurde durch alternative Stromversorger erfolgreich aufgebrochen.
  • Rufen wir doch einfach an vielen Orten eine GATS-freie Zone aus, die nicht nur symbolischen Charakter hat, sondern wo die unerwünschten Dienstleistungskonzerne tatsächlich „kein Bein an den Boden“ bekommen! Dem Überschwemmen mit auswärtigen Dienstleistungsangeboten können wir durch regionale Zusammenarbeit begegnen. Auch ist eine Gemeinde oder ein Grundeigentümer ja nicht gezwungen, für eine unverträgliche Nutzung eines auswärtigen Konzerns Grund und Boden zu verkaufen oder Rechte zu veräußern und Infrastruktur für ihn zu schaffen. Eine neue Bodennutzungsordnung wäre ohnehin angebracht unter der Fragestellung: wem gehört die Erde und die Gemeinde?
  • Und wie wollte man uns mit welchen Mitteln zwingen, unsere Kinder künftig in die kommerziellen Einrichtungen der Bildungskonzerne zu schicken und deren Spielregeln zu gehorchen, solange wir selber Alternativen für die Bildung schaffen und alles andere boykottieren?
  • Wer will uns eigentlich zwingen, die durch die Welthandelsorganisation und das Investitionsschutzabkommen herabgesetzten Sozial- und Umweltstandards zu akzeptieren und zu befolgen? Wir pfeifen auf die abgesenkten Umweltstandards und verhalten uns einfach umweltgerecht in höchster Konsequenz! Welche Rechtsnorm will uns denn wie zur Umweltschädigung zwingen?
  • Und wer will uns verbieten, oberhalb der abgesenkten Tarif- und Sozialstandards unsere eigenen örtlichen, regionalen oder gruppen- und gemeinschaftsbezogenen Sozialstandards und Ausgleichsregelungen, also auch menschenwürdige Einkommen nach eigenen Tarifen zu kreieren und sich solidarisch zu verhalten? Wenn von oben dereguliert wird, dann regulieren wir eben unten was zu regulieren ist!
  • Die Gleichheit der Menschen, ihre rechtliche Gleichstellung, drückt sich nicht in national oder international einheitlichen und genormten Versorgungs- und Sozialstandards auf niedrigstem Niveau aus, sondern auch darin, wie die örtlichen und regionalen Gemeinschaften oder Berufsgruppen usw. nach eigenen Modellen ihre sozialen Lebensbedingungen untereinander und miteinander solidarisch und sozial gerecht und ausgeglichen gestalten, anstatt Gerechtigkeit von oben vergeblich einzufordern oder nach Zuständigkeiten zu fragen und zu rufen.
  • Das ist ja das Wesen der Selbstverwaltung gerade auf kommunaler Ebene, dass die örtliche Daseinsvorsorge zunächst einmal auf der untersten Ebenen selber verantwortlich in die Hand genommen wird, bevor die höhere Ebene bemüht wird – das sogenannte Subsidiaritätsprinzip!
  • In vielen globalen Dörfern könnte eine Rückbesinnung auf das stattfinden, was in den Städten und Dörfern als kulturelle und wirtschaftliche Keimzellen einst begonnen hatte: eine Lebenshilfe auf Gegenseitigkeit, abgekoppelt von neoliberalen Zwängen und Spielregeln, die wir ja nicht einhalten müssen! Will das WTO-Schiedsgericht Einzelentscheidungen über Hunderttausende Kommunen fällen oder dieses dann an die Nationalstaaten delegieren? Dann haben wir endlich die versäumte politische Diskussion in den Staaten über die globalen Abkomme und ihre Verfassungswidrigkeit! Sanktionszahlungen leisten wir jedenfalls nicht an irgendeine Handelslobby und deren Konzerne, weil wir deren Rechtsetzung nicht anerkennen müssen, zumal sie nicht dem Rechtsempfinden den Menschen entspricht, die ja nicht demokratisch beteiligt waren. Einer Wirtschaftsdiktatur kann ja nicht eine Rechtsdiktatur folgen, jedenfalls nicht gegen unseren Widerstand. Lasst uns die Hilflosigkeit der Konzerne vorführen und die Macht der Verbraucher ausprobieren (z.B. mit den Millionen Gewerkschaftsmitgliedern und deren Angehörigen)!
  • Wer will uns daran hindern, Patientenkollektive zu bilden, um Solidarität im Gesundheitswesen zu erhalten oder Patenschaften für städtisches Dienstleistungspersonal oder freie Träger zu übernehmen usw.? An die Stelle des abgebauten Sozialstaates könnten wir Selbstverwaltungsnetzwerke und Aufgabengemeinschaften setzen, die ganz neues erproben und das nicht nur als Lückenfüller, sondern als Zukunftsmodelle!

Sieben Ideen für Ansätze zu kreativer Zukunftsgestaltung auf der kommunalen Selbstverwaltungsebene

Dafür zum Schluss 7 Beispiele stichwortartig als Anregung für die morgigen Workshops:

  1. Neue Formen der Gemeinwirtschaft in regionaler und globaler Vernetzung aufbauen, die sich nicht nur darauf beschränken, Waren und Dienstleistungen anonym auszutauschen, sondern auch assoziativ zusammenarbeiten und die wechselseitigen Bedürfnisse der beteiligten Menschen wahrnehmen.
  2. Neue Qualitäten menschlicher Beziehungen entwickeln, bei denen die Preise für Dienstleistungen und Waren die soziale Lebenslage der Menschen widerspiegeln.
  3. Kooperation und Koordination im Wirtschaftsleben praktizieren, bei dem statt Anonymisierung und Verantwortungslosigkeit der Einzelne wieder Verantwortung übernehmen kann.
  4. Durch Modellversuche mit Vorbildcharakter eine neue Solidarfinanzierung durch die Allgemeinheit mit Sozialausgleich entwickeln und erproben.
  5. Bei der eigenen Wirtschaftstätigkeit die Umweltsysteme nicht überlasten, durch konsequente Orientierung an Nachhaltigkeitskriterien.
  6. Mit Tauschringen und regionalen Gutscheinwährungen usw. gewisse Unabhängigkeiten von den entfesselten Finanzmärkten gewinnen und eine Transparenz für die regionalen Geld- und Finanzströme im Wirtschaftsprozess erzeugen.
  7. Mit einer Gemeindefinanzreform, die den Namen verdient, einen Neustart für die Kommunen gemeinschaftlich und kreativ erkämpfen und dabei zivilen Ungehorsam gegen Landes- und Bundesaufgaben ohne Gegenfinanzierung riskieren. Zugleich mit lokaler Bürger- und Wirtschaftssteuer und Bürgerhaushalt eine transparente und mitzugestaltende Form der Finanzierung örtlicher Gemeinschaftsaufgaben sichern.

Wenn es uns dabei ansatzweise gelingt, zumindest auf örtlicher Ebene die Verquickung von staatlichen und privatwirtschaftlichen Einrichtungen aufzulösen und deren Einmischung in unsrer kulturelle und geistige Freiheit zu unterbinden, dann haben wir schon viel Gestaltungsfreiheit als mündige Bürger gewonnen!

Das drohende Ende der kommunalen Selbstverwaltung ist also der hoffnungsvolle Aufruf zu einem neuen Anfang! Packen wir`s gemeinsam an!