Wilhelm Neurohr

Leserbrief zum RZ-Leitartikel vom 09.05.2015 über die gefühlte Lohngerechtigkeit

„Wirkliche Lohngerechtigkeit bedürfte eines vorherigen Generalstreikes“

Der Leitartikel der dpa vom 9. Mai über die momentane Streikwelle infolge der „subjektiv gefühlten Lohn(un)gerechtigkeit“ ist mit seinen bunt zusammengewürfelten Zitaten aus diversen Studien ein geschicktes Ablenkungsmanöver vom „Billiglohnland Deutschland“ nach Verabschiedung von der „sozialen Marktwirtschaft“. Die objektiven Zahlen und Fakten tauchen in dem Artikel nicht auf, so dass die Lohnfrage quasi auf einen „neidvollen subjektiven Vergleich der deutschen Arbeitnehmer untereinander“ reduziert wird, statt auch den internationalen Vergleich zu bemühen.

Wenn schon das DIW-Wirtschaftsinstitut zitiert wird, dann bitte auch vollständig, denn dessen Arbeitsmarktexperten haben sich für „spürbare Lohnanhebungen“ in Deutschland generell ausgesprochen. Diese dienen der Konjunktur, dem Binnenmarkt und dem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht sowie der Verteilungsgerechtigkeit. Sogar der CDU-Wirtschaftsrat hält ebenso wie alle Wirtschaftsforscher die robuste Konjunktur und die niedrige Inflation als Gründe, endlich die Löhne in Deutschland insgesamt deutlich anzuheben. Hier ein aufschlussreicher Blick in die amtlichen Statistiken oder Aussagen der OECD und der UN-Arbeitsorganisation ILO u. a. :

  1. Im internationalen Vergleich hatte Deutschland zwischen 2000 und 2013 das schlechteste Lohnniveau in Europa und treibt damit die Lohnspirale immer mehr nach unten.

  1. Demgegenüber sind die Unternehmens- und Vermögenseinkommen seit 2000 um satte 30,3% gestiegen, derweil die Nettolöhne der Arbeitnehmer bei -0,3% pendeln.

  1. Die Reallöhne und Durchschnittsgehälter in Deutschland sind in den letzten 10 Jahren um 4,5% gesunken, während sie in allen anderen Industriestaaten (in Europa, USA und Asien) zwischen 2,5% und 25% stiegen (im Schnitt um ca. 10%)!

  1. Die prozentuale Entwicklung der nominalen Arbeitnehmer-Entgelte in den letzten 10 Jahren lag bei 11%v in Deutschland, gegenüber 25% bis 88% in den übrigen EU-Ländern (im Schnitt bei 40%).

  1. Die Lohnzuwächse in Deutschland bleiben seit einem Jahrzehnt um 5% bis 10% hinter der Produktivitätsentwicklung weit zurück, die seit 2000 um 14% gestiegen ist, so dass die Verteilungsspielräume nicht ausgeschöpft wurden.

  1. Während die erwirtschaftete Bruttolohnsumme in den letzten 10 Jahren um 6,6% stieg, sind die Bruttolöhne im gleichen Zeitraum um nur 1,8% gestiegen, so dass auch hier eine Diskrepanz besteht.

  1. Die Reallöhne in Deutschland sind in den zurückliegenden 3 Jahren um gerade einmal 0,1% bis 1,0% gestiegen, obwohl die Arbeitskosten und Lohnstückkosten sinken, so dass der Lohnrückstand erst noch aufzuholen ist.

  1. Erst in 2013 erfolgte wieder ein leichter Anstieg der Reallöhne in Deutschland um +0,6%, in den übrigen EU-Ländern dagegen zwischen +1,0% und +2,5%, obwohl Deutschland als die „Konjunkturlokomotive Europas“ gilt.

  1. Fast ein Viertel aller deutschen Beschäftigten (24,1%) sind Geringverdiener, die einen Kaufkraftverlust von 11,2% erleiden (woran auch die „Mindestlöhne“ als Niedriglöhne wenig ändern, gegen die Arbeitgeberverbände immer noch kämpfen).

  1. Die Zahl der (meist unfreiwilligen) Teilzeitbeschäftigten ist von 3% auf 11% angestiegen, so dass viele auf einen Zweitjob angewiesen sind. Und Deutschland hat die höchste Lohndiskriminierung von Frauen.

Natürlich gibt es auch Ungerechtigkeiten zwischen den Branchen und Berufsgruppen: Während die Industriebeschäftigten relativ gut bezahlt werden, klafft eine große Lücke zu den Dienstleistungsberufen. Auch der öffentliche Dienst könnte mehr bezahlen, weil die Staatsausgaben (Staatsquote) in Deutschland mit 45% vergleichsweise niedrig sind (am untersten Ende mit USA und GB).

Fakt ist also: Die derzeitigen Streiks der Erzieherinnen, der Beschäftigten bei Post und Bahn, bei Amazon u. a. sind Ausdruck der überfälligen Anpassungen der Löhne und Gehälter in diesem Billiglohnland. Eine wirkliche Lohngerechtigkeit sowohl im internationalen Vergleich als auch im Verhältnis zu den Bestverdienern aus den Chefetagen, bei den leitenden Angestellten, in der Politik usw. bedürfte vor dem Hintergrund der geschilderten Verteilungs-Ungerechtigkeit eigentlich eines ganz anderen Druckmittels zur erfolgreichen Durchsetzung, nämlich eines Generalstreikes….

Wilhelm Neurohr

Präsidiumsmitglied des gemeinnützigen Instituts

für Wissenschaft, politische Bildung

und gesellschaftliches Handeln (IWiPo)

Recklinghausen

www.iwipo.eu