Wilhelm Neurohr

Der 25. November war ein denkwürdiges Datum im seltenen Dialog zwischen der Europäischen Union und Afrika: Bei der zweiten europäisch-afrikanischen Ministerkonferenz in Paris mit Vertretern aus 60 Ländern wurden trotz des elementaren Menschenrechtes auf Freizügigkeit neue Zäune, Mauern und Feindbilder errichtet, um das Elend der Flüchtlingsströme nicht an uns heranzulassen. Afrikaner ohne Zukunftsperspektive sollen warten, bis Europa sie braucht und solange mit afrikanischer Hilfe ausgesperrt werden. Darin offenbart sich das vorherrschende europäische Welt- und Menschenbild.

Europa bleibt seltsam gleichgültig angesichts einer halben Million Toten in seinen südlichen Grenzgewässern. Allein 13.000 Tote wurden im Mittelmeer und im Atlantik vor den kanarischen Inseln seit 1988 aufgefunden, so hat die Flüchtlingsorganisation medico international recherchiert. Nach Schätzungen der UN kommen auf jeden tot aufgelesenen Bootsflüchtling noch einmal 45 versunkene Leichen. Sie starben auf der Suche nach Überleben und auf der Flucht vor Lebensbedingungen, die durch Freihandel, europäische Agrarsubventionen und klimabedingte Katastrophen unerträglich und perspektivlos sind. Hinzu kommen Kriegsflüchtlinge aus afrikanischen Regionen mit wertvollen Rohstoffen, in denen mit Waffen aus Europa gekämpft wird, angezettelt durch Diktatoren, die teilweise versteckte Unterstützung aus Europa erhalten. Funktionierende Demokratien könnten die Wirtschaftsinteressen ja stören.

In meinem kritischen Europa-Buch[1] habe ich zur Afrika-Politik als „schwarzes Kapitel Europas“ beschrieben, dass jährlich 120.000 Afrikaner versuchen, in die „Festung“ Europa „illegal“ einzureisen, aber nur 14.000 im letzten Jahr nach vorherigem Transit durch die Sahara die gefährliche Seereise nach Malta, Italien, Spanien oder auf die Kanaren geschafft haben – vorbei an den europäischen Patrouillenschiffen der „Grenzagentur Frontex“ im Meer und am elektronischen Überwachungssystem an der Meerenge von Gibraltar. Das lässt sich die EU insgesamt fast 100 Mio. Euro kosten.

Wettbewerb der wirksamsten Flüchtlings-Abschiebung?

Wer dennoch durchkommt, wird meist in abgeschottete Hochsicherheitslager mit hohen Zäunen gesteckt und wieder deportiert, ohne ein Mindestmaß auf Recht und Würde für alle Migranten. Zehntausende bleiben irgendwo in der Wüste oder in den Slums Nordafrikas hängen, perspektivlos oder als Tagelöhner in Casablanca und Algier, in Tripolis und Tanger. „Armut macht krank und Krankheit macht arm“, diesem Teufelskreis sind die Menschen in den arm gehaltenen Ländern Afrikas ausgeliefert.

Dabei soll es bleiben, und die afrikanischen Partnerländer sollen verstärkt Polizeifunktionen für die EU bei Abschiebung der afrikanischen Flüchtlinge übernehmen, so lautet der „Partnerschafts-Pakt“ vom Pariser Gipfel, den die Europäer unter sich ausgemacht und den Afrikanern zur Zustimmung vorgelegt haben – mit dem Versprechen von Geld aus der europäischen Entwicklungshilfe. Die EU hat ihre Methoden verfeinert, mit denen sie die Wirklichkeit und die Not aussperrt durch neue Zäune, Mauern und Feindbilder, bis hinein in verräterische diplomatische Sprachbilder: Abschiebung als Bedingung für Entwicklungshilfe, so stellt sich Europa den „Dialog“ mit Afrika vor?

Damit hat sie beim Gipfel in Paris Afrika ihre Migrationspolitik diktiert, getreu den Entwürfen der regressiven EU-Migrationspolik unter der französischen EU-Ratspräsidentschaft. Die Kontrollen werden mit dem Dreijahresplan bis in die Herkunftsländer vorverlagert durch verlangte Ausreisekontrollen und unbürokratische Rücknahme abgeschobener Migranten, zwecks Abschottung Europas. Bei der Abschiebung von Flüchtlingen sollen also die afrikanischen Partnerstaaten europäische Polizeifunktionen gegen Bezahlung übernehmen. Allein Frankreich will jährlich 25.000 Afrikaner abschieben ins Elend, notfalls auch die Kinder der „illegalen“ Familien mit der Polizei aus der Schule holen. Und Spanien brüstet sich des besten Systems in der EU zur Abschiebung und Abschottung, indem es 92% der Immigranten wieder ausgeflogen hat. Dabei bedient es sich eigens eingerichteter Internierungslager in Mauretanien zur „Beendigung des afrikanischen Flüchtlingsdramas an den Küsten Südeuropas“.

„Was tun, wenn die Heimat kein Zuhause ist?“

Auf der Ministerkonferenz über Migrationsfragen stießen zwei Welten aufeinander: die Zielländer Europas und die Herkunftsländer der Migranten in Afrika. „Die Menschen, die auf der anderen Seite unserer Meere auf die Fahrt in ein besseres Leben warten, teilen ein Schicksal: In Afrika können sie nicht, in Europa dürfen sie nicht bleiben“, so stellt medico international fest und fragt: „Was tun, wenn die Heimat kein Zuhause ist?“. In ihrer Heimat fischen die Europäer ihre Meere leer, beuten die dortigen Öl- und Rohstoffvorkommen aus und überschwemmen ihre Märkte mit Lebensmitteln zu Dumpingpreisen, mit denen die Erwerbs- und Lebensgrundlagen der dortigen bäuerlichen Gesellschaften zerstört werden. Die Flüchtlinge sind deshalb die Zeugen unserer Zeit, einer Zeit des Konkurrenzkampfes jeder gegen jeden, wie er in den europäischen Verfassungsentwürfen und Reformverträgen verpflichtend festgeschrieben werden soll. Das dunkle Kapitel der Kolonialherrschaft ist noch nicht wirklich abgeschlossen, sie kommt in anderem Sprachgewand diplomatisch daher, ohne dass den Hunderttausenden von Hungernden und Hungertoten in ihrer afrikanischen Heimat wirklich geholfen wird.

Zwar benötigt Europa selber bis 2030 durch seine Überalterung und rückläufigen Geburtenraten 30 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte vor allem vom afrikanischen Kontinent mit seinem Menschen- und Kinderreichtum. Doch ungebeten hat zum jetzigen Zeitpunkt noch niemand nach Europa zu kommen? Afrikaner ohne Zukunftsperspektiven sollen gefälligst warten, bis Europa sie braucht, so lautet die Devise der EU. Stattdessen schicken wir europäische Experten nach Afrika, die den dort ausgebildeten Akademikern ihre einzigen Arbeitsmöglichkeiten in ihrer Heimat nehmen. Europa trägt die Hauptverantwortung für diese verfehlte Afrika-Politik. Kann so die Zukunft der europäisch-afrikanischen Beziehungen aussehen? Die Probleme Afrikas sind die ungelösten Probleme Europas. Kann sich jemand in Europa als Weltbürger bezeichnen, der diesem menschenrechtsverletzenden Treiben des reichen Europas tatenlos zusieht, indem er der sozialdarwinistischen Lissabon-Strategie der EU zugunsten der „wettbewerbsfähigsten wirtschaftlichen Führungsmacht“ ohne Rücksicht auf deren Opfer und Verlierer zustimmt? Ein solches chauvinistisches Europa kann auch uns keine Heimat und keine Zukunft bieten.


[1] Wilhelm Neurohr: „Ist Europa noch zu retten?“ Pforte-Verlag 2008;

Der Autor unterstützt den Verein Avenir-Togo bei einem Projekt in Westafrika, www.avenir-togo“.de