Wilhelm Neurohr

Alarmierender politischer Vertrauensverlust

Allerhöchste Zeit für ein Update zur Rettung unserer akut gefährdeten Demokratie! - Konkrete Reformvorschläge

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Grafik: "Unternehmensdemokraten" ( By Bodo Antonic: Denkanstöße, Methoden, 18. Mai 2020)

„Ohne Zweifel muss sich unsere Demokratie erneuern,
wenn sie zukunftsfähig bleiben will.“

(Jörg Sommer, Sozialwissenschaftler, Institut für Partizipation)

"Wir brauchen neue Ideen und Möglichkeiten
für Mitgestaltung und Partizipation in unserer Gesellschaft.
Wir müssen politische Willensbildung
unter den heutigen Bedingungen besser organisieren“

(Johannes Rau, Bundespräsident von 1999-2004)

Laut aktuellen Umfragen vom Herbst 2025 sind nur noch die Hälfte der Deutschen davon überzeugt, dass sich die politischen Probleme und Krisen mit unserem demokratischen System lösen lassen. Der Anteil derjenigen, die einem autoritären System bei Krisen und Kriegen mehr zutrauen, hat sich innerhalb von 2 Jahren von 14% auf 31% mehr als verdoppelt, wie Allensbach ermittelte. Und nicht einmal jeder zweite glaubt, dass unsere militärischen Probleme mit unserem System besser gelöst werden können als in Autokratien. Eine damit liebäugelnde rechtspopulistische Partei überrundet gerade in Umfragen die einstigen demokratischen Volksparteien in Deutschland, wie zeitgleich auch in anderen Ländern.

Müssten jetzt nicht die Alarmglocken schrillen und das aus dem vorigen Jahrhundert stammende demokratische System schnellstens zukunftstauglich für das 21. Jahrhundert gemacht werden, bevor es vollends erodiert? Es ist Gefahr im Verzuge, darum bedarf es dringend guter Handlungs-Vorsätze im Neuen Jahr: jetzt ist schnellsten ein Update für unsere offensichtlich nicht mehr funktionierende Demokratie vonnöten, mit kreativen Reform-Ideen und erweiterten Beteiligungsformen, bevor auch in Deutschland die in Umfragen führenden Verfechter autoritärer Systeme die Demokraten verdrängen. Hier zunächst die vorangestellte Begründung für die sich anschließenden konkreten Vorschläge für weitreichende Demokratisierungen:

Erschreckender Vertrauensverlust in Parteien, Regierung und Parlament

Aktuell hat laut Umfragen nur noch jeder Vierte Vertrauen in die amtierende Bundesregierung. Den Parteien vertraut nicht mal mehr jeder Fünfte, dem Parlament nur jeder Dritte. Repräsentative Umfragen der Körber-Stiftung zeigen, dass 54% nur noch geringes Vertrauen in die Demokratie haben und sogar nur noch 9% in die Parteien. 46% der Deutschen finden, dass es weniger bis gar nicht gerecht im Land zugeht.71% der Befragten sind der Meinung, dass führende Leute in Politik und Medien in ihrer eigenen Welt leben, aus der sie auf den Rest der Bevölkerung herabschauen. Deshalb halten 85% der Bevölkerung eine stärkere Bürgerbeteiligung für wichtig.

Es besteht folglich großer Handlungsbedarf, der keinen Aufschub duldet. Denn die bedrohliche Entwicklung des Demokratie-Verfalls kommt nicht überraschend, da die alarmierenden Umfrage-Ergebnisse den erschreckenden Vertrauensverlust in Parteien, Regierung, Parlament und Medien schon seit Jahrzehnten zunehmend offenbaren, ohne nennenswerte Reaktionen. Sowohl aktuelle als auch zurückliegende Umfragen sind im Ergebnis aufrüttelnde, aber seit Jahrzehnten ignorierte Warnungen vor einer Bankrotterklärung für unsere parlamentarische Parteiendemokratie, die einfach immer so weiter macht, trotz des bedrohlichen Rechtstrends. „Besonders schädlich ist es, wenn sich immer mehr das Gefühl breit macht: Die da oben können es nicht“ (Johannes Rau in seiner letzten Berliner Rede 2004).

Auch die Jugendlichen trauen der Politik keine Problemlösungen mehr zu

Auch die Jugendlichen, um deren Zukunft es geht, trauen laut Sinus-Studie von 2024 der Politik keine Problemlösungen mehr zu und wenden sich zu 16% den Rechtspopulisten (AfD) oder den „sonstigen“ Kleinstparteien (28%) zu. Und 41% der Jugendlichen glauben nicht mehr daran, dass sie durch Fleiß und harte Arbeit aufsteigen oder besser leben können als ihre Elterngeneration. 80% sorgen sich um ihre Zukunft und ein Drittel hat schon mal an Auswanderung gedacht.

Ein politisches „Weiter so“ wäre deshalb tödlich für unsere bedrohte Demokratie, die einen umfassenden Umbau zur nachhaltigen Verbesserung erfordert angesichts des dramatischen Verfalls der politischen Kultur. Gerade die Jugendlichen müssen stärker beteiligt werden an allen ihren Gegenwarts- und Zukunftsfragen und Entscheidungen. In Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention ist festgeschrieben, dass Kinder und Jugendliche ein Recht haben, bei allen Fragen, die sie betreffen, beteiligt zu werden an den gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen. Daran hapert es jedoch gewaltig in unserem demokratischen System. (In anderen Ländern wie Spanien sind aus Demokratiedefiziten vor 15 Jahren Protestbewegungen der „Empörten“ entstanden mit dem Slogan: „Diese Politik vertritt uns nicht!“).

Mehrheit fühlt sich durch Regierende Politiker nicht mehr repräsentiert

Die überwältigende Mehrheit fühlt sich also laut Umfragen durch die regierenden Politiker nicht mehr repräsentiert und hat deshalb auch kein Vertrauen mehr in Parteien, Parlament und Regierung sowie Medien, wie schon vor Jahren die Bertelsmann-Stiftung, die Heinrich-Böll-Stiftung und die Otto-Brenner-Stiftung übereinstimmend ermittelt haben. Besonders schlecht schneiden die Parteien ab. Und die „Volksvertreter“ in den Parlamenten unserer längst nicht mehr repräsentativen Demokratie setzen sich zu Dreiviertel aus „besser Verdienenden“ Akademikern, Juristen, Lehrern, Sozialwissenschaftlern und Beamten oder Ökonomen zusammen, denen die Lebenswelt der Bevölkerungsmehrheit eher fremd ist und die sich davon durch vielfältige Privilegien abheben, die durch nichts gerechtfertigt sind.

Haben sich die privilegierten Politiker und auch die Journalisten der Leitmedien in ihrer abgehobenen Blase zu weit entfernt von den Problemen der abstiegsbedrohten Menschen? Von den 62 Mio. Wahlberechtigten in der Bundesrepublik sind nur zwischen 1% und 2% in Parteien organisiert, die sich (laut Richard von Weizsäcker) „den Staat zur Beute gemacht“ haben und von der Wirtschaftslobby spendabel gesponsert werden. Nicht wenige Parteipolitiker werden nach ihrer politischen Karriere selber zu Lobbyisten, die oft mehr Einfluss haben als die Wählerinnen und Wähler. Immer mehr wendet sich deshalb das „Wahlvolk“ vom herrschenden System ab, das nicht seine Mehrheitsinteressen vertritt, sondern eine Minderheit besonders profitieren lässt, wie die zunehmende soziale Ungleichheit offenbart.

Staatsbürger als Souverän wollen mehr Mitsprache und Beteiligung

Über 80% bemängeln schon seit Jahren, kein politisches Gehör mehr zu finden und jeder Zweite beklagt fehlende Beteiligungsmöglichkeiten jenseits von Wahlen. Denn „Wahlen alleine machen noch keine Demokratie“ (Barrack Obama). Stattdessen hat die „Zweite Frau im Staate“, die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner, gerade erst die Stabsstelle für Bürgerräte im Bundestag aufgelöst mit dem Argument, Bürgerräte führten zu einem Machtverlust des Parlaments. Die allein in diesem Jahr in Deutschland bundesweit ausgelosten 58 Bürgerräte mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern fühlen sich daraufhin vor den Kopf gestoßen und entmündigt, ohne Widerspruch aus dem Parlament oder der Regierung.

Dabei wäre Bürgerbeteiligung das Gebot der Stunde: In Wirklichkeit stärken die beratenden Bürgerräte die Demokratie nachhaltig und sind ein Erfolgsmodell, wie auch die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) in einem Bericht feststellt. Sie empfiehlt die Bürgerräte als Beteiligungsinstrument, da in etwa der Hälfte der Fälle die Bürgerrats-Empfehlungen auch politisch umgesetzt wurden. Die geringe Wertschätzung der amtierenden Bundestagspräsidentin für die Meinungen und Vorschläge aus der Bürgerschaft wird sich für die Regierungs- und Parteipolitiker bitter rächen. Misstrauen die Politiker ihren Wählern als Souverän?

Vertrauen weicht politischem Misstrauen

Vertrauen verwandelt sich somit (auf beiden Seiten) immer mehr in politisches Misstrauen, wie die Umfragen und auch die sinkende Wahlbeteiligung bis auf 50% belegen, ohne dass die Parteien den Weckruf wirklich vernehmen. Die Volksparteien der Mitte haben das Grundvertrauen der Wähler in die Demokratie seit Jahren verspielt, doch „ohne Vertrauen können wir Probleme nicht lösen“ (Johannes Rau). Vertrauen schafft Akzeptanz, wenn es kein abverlangtes „blindes Vertrauen“ in die alleinige Kompetenz der Politiker ist. Versetzt der messbare und erlebbare Vertrauensverlust der Demokratie den Dolchstoß und muss deshalb ständig die Vertrauensfrage gestellt werden?

Kein Vorhaben in Deutschland ist bislang an zu viel Demokratie gescheitert, wohl an zu wenig Beteiligung. Warum keine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Gewählten und den Wählenden? „Herrscher brauchen Vertrauen. Demokraten brauchen Diskurs“ (Jörg Sommer). Vertrauen des Volkes müssen sich die Politiker erst verdienen, denn „das Wesen der Demokratie ist es, den Regierenden zu misstrauen, sich deshalb selbst am Willensbildungsprozess zu beteiligen, ihre Entscheidungen zu hinterfragen, Argumente zu verlangen und darauf zu bestehen, überzeugt zu werden“.

Das politische Führungspersonal in Regierungsämtern überzeugt nicht mehr

Nicht zuletzt das politische Führungspersonal selber mit seiner Serie von Skandalen oder Fehltritten bewirkt die beklagten Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverluste, wie schon „die große alte Dame der Liberalen“, die verstorbene Hildegard Hamm-Brücher frühzeitig bemerkte: „Das größte Ärgernis sind die Auswahlverfahren für hohe und höchste Regierungsämter, die zu meist ohne Rücksicht auf Qualifikationen und Qualitäten im Macht- und Proporzpoker der Koalitionsparteien verkommen“.

Die Persönlichkeitswerte führender Spitzenpolitiker sinken im Beliebtheitsranking deshalb steil nach unten. Das Vertrauen in die Fähigkeiten und in die Integrität der Regierungspolitiker schwindet rapide. Die Art und Weise der Personalauswahl ist zu hinterfragen und den Anforderungen entsprechend zu ändern. Aber auch die Abgeordneten in den Parlamenten als Volksvertreter sollten sich täglich bewusst machen: „Demokratie ist Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk“ (Abraham Lincoln).

Entfremdungsprozess zwischen Wählern und Gewählten

Schon „die große alte Dame des Liberalismus“, Hildegard Hamm-Brücher, stellte bereits 1989, nach langjähriger parlamentarischer Erfahrung die Frage: „Ist unser parlamentarisches System in guter Verfassung? Wir haben zwar eine gute Verfassung, aber wie steht es um die innere Verfassung unseres Gemeinwesens? Wo liegen die Ursachen für den Entfremdungsprozess zwischen Bürgern und Parteien, zwischen Wählern und Gewählten, für den Ansehensverlust der Parlamente und die Diskrepanz zwischen Verfassungsauftrag und Verfassungswirklichkeit?“ Und warum haben die Parteien (in unserer „Parteienoligarchie“ als Herrschaft einer kleinen Funktionärsgruppe) quasi eine Monopolstellung bei der Aufstellung der Kandidaten? Zuvor hatte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker geraten, über unsere politische Kultur nachzudenken.

„Das Selbstverständnis des Parlamentes, seine Arbeitsweise, sein Erscheinungsbild, seine Glaubwürdigkeit und seine Mittlerfunktion zwischen Bürger und Staat entscheiden über das Ansehen der repräsentativen Demokratie“, bemerkte Hamm-Brücher. Sie erinnerte daran, dass laut Grundgesetz alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, die Parteien bei der politischen Willensbildung lediglich mitwirken und die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes sind, also nicht an Aufträge und Weisungen gebunden (wie oftmals in Koalitionsbündnissen beim unzulässigen „Fraktionszwang“ abverlangt, zwecks „einheitlicher Abstimmungen“ und reglementierter Wortmeldungen). Die Anwesenheit der Abgeordneten ist damit nur noch nominell erforderlich, so dass wir „Debatten“ in (halb)leerem Plenarsaal erleben. Das führt die parlamentarische Demokratie (mit ihren langjährigen „Berufspolitikern“ statt Mandatsträgern auf Zeit) ad absurdum. Reformen sind deshalb unverzichtbar.

Humanistische Union: „Vorschläge zur Rettung der Demokratie“

In Zusammenarbeit mit der Gustav-Heinemann-Initiative hat die Humanistische Union (als bundesweite Organisation für Menschen- und Bürgerrechte) in 2024 in einem umfassenden Positionspapier zur „Demokratisierung“ zahlreiche „Vorschläge zur Rettung der Demokratie“ unterbreitet. Diese reichen von der Einrichtung von „Bürgerräten“ und einer parlamentarischen „Bürgerkammer“ (mit begrenzter Amtszeit sowie Kollegialitäts- und Rotationsprinzip) über größere Kontrolle über Parlamente und von Regierungen bis hin zur politischen Partizipation für Minderjährige und zur Demokratisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Nicht nur die direkte und dialogische Demokratie durch Mitberaten und Volksentscheide sollte demnach gestärkt werden, sondern auch die Repräsentation der Bürgerschaft oder Gesamtbevölkerung durch zusätzliche Repräsentationselemente neben den Parlamenten erhöht werden. Denn nach Auffassung der Humanistischen Union ist die Demokratie „in einem schlechten Zustand: Rechtsextremismus, Wirtschaftslobbyismus, wachsende soziale Ungleichheit, Einschränkung der öffentlichen Diskursräume, Rückgang von Parteimitgliedschaften und parlamentarische Dysfunktionalität sowie wachsende Kluft zwischen den politisch Repräsentierten und den Repräsentierenden etc. gefährden die Demokratie.“

„Politische Repräsentanten haben alle Maßstäbe verloren“

Der angesehene frühere Bundespräsident Johannes Rau hatte es in seiner letzten Berliner Rede vom 12. Mai 2004 auf den Punkt gebracht: „Der Vertrauensverlust in unserem Land hat aber auch ganz handfeste Gründe. Es sind ganz konkrete Handlungen und Einstellungen, Worte und Taten, die immer mehr Menschen tiefes Misstrauen einflößen. Wir müssen zum Beispiel erleben, dass einige, die in wirtschaftlicher oder öffentlicher Verantwortung stehen, ungeniert in die eigene Tasche wirtschaften. Das Gefühl für das, was richtig und angemessen ist, scheint oft verlorengegangen zu sein. Egoismus, Gier und Anspruchsmentalität in Teilen der sogenannten Eliten schwächen auch das Vertrauen in die Institutionen selber, wenn deren Repräsentanten offenbar alle Maßstäbe verloren haben“.

Zur Vertrauenswürdigkeit bemerkte Rau: „Wer politisch vertrauenswürdig sein will, der darf nicht über jedes Stöckchen springen, das Interessenvertreter oder Medien ihm hinhalten. Da wird ein Fall von angeblichem Sozialmissbrauch im Ausland medial groß aufgemacht - der bei Licht besehen gar kein Skandal ist - und schon werden Gesetze geändert. Ähnliches ließe sich im Zusammenhang mit der Gesundheitsreform sagen, ähnliches von der Steuerreform“.

„Klarer Kurs gefragt anstatt kurzfristigem Aktionismus und Gruppenegoismus“

Weiter heißt es in der Rede von Rau: „Wenn eine angeblich benachteiligte Gruppe nur laut genug schreit oder der blanke Populismus publizistisch Verstärkung erfährt, sind die Vorhaben von gestern heute schon nichts mehr wert. Das zeugt nicht von Souveränität. Es schafft vielleicht kurzfristig Applaus, aber nicht langfristig Vertrauen. Vertrauen gewinnt politisches Handeln durch Souveränität und Solidität. Kurzfristiger Aktionismus schafft eher Misstrauen, weil man dann nur darauf wartet, welches Thema wohl morgen hochgespielt wird. Vertrauen entsteht nur da, wo man einen klaren Kurs erkennen kann“.

Rau wurde noch deutlicher: „Wir müssen in den Debatten über Veränderungen und Reform auch erleben, dass allzu oft das Gemeinwohl vorgeschoben wird, wo es um nichts als Gruppenegoismus, um Verbandsinteressen oder gar um erpresserische Lobbyarbeit geht. Häufig glauben die Bürgerinnen und Bürger einfach nicht mehr, was sie hören und sehen. Sie machen zu oft die Erfahrung, dass man vielem, was in aller Öffentlichkeit gesagt wird, nicht trauen kann. Es ist auch kein Ausweis des Vertrauens, wenn über manche, die in der Öffentlichkeit stehen, gesagt wird: "Denen ist alles zuzutrauen."

„Einfallstor für Populisten“

Mit weiser Voraussicht wurde von Johanne Rau erkannt: „Vertrauen in die Politik wird auch zerstört, wenn der Eindruck entsteht, in nahezu jeder Frage gehe es in erster Linie darum, wer sich gegen wen durchsetzt, wer wem am meisten schadet, wer zurückgesetzt wird oder sich wieder ein Stück weiter nach vorne gekämpft hat. Dadurch werden nicht nur wichtige Sachfragen als Nebensache behandelt, so dass am Ende oft das Falsche oder Dilettantisches herauskommt. Dadurch entsteht auch der fatale Eindruck, in der Politik komme es letztlich nur darauf an, wer die Macht hat und nicht so sehr darauf, was er mit ihr macht.“

Auch den Rechtspopulismus hatte er kommen sehen: „Kein demokratischer Staat hält es auf Dauer aus, wenn sich immer stärker eine Haltung des "Wir da unten, die da oben" durchsetzt. Gewohnheitsmäßiges Misstrauen in die Politik untergräbt die Fundamente der Demokratie und ist ein riesengroßes Einfallstor für Populisten und schreckliche Vereinfacher aller Art. Die haben auf alles eine Antwort und für nichts eine Lösung“.

Intransparente Politik hinter verschlossenen Türen

Zum Thema politische Transparenz bemerkte Rau: „Misstrauen wächst auch dann, wenn wichtige politische Entscheidungen in immer kleineren Kreisen getroffen werden. Nun weiß jeder, dass es manchmal wirklich nötig ist, sich hinter verschlossenen Türen zu beraten, um zu einem Konsens oder zu einem Kompromiss zu kommen, den alle mittragen können. Solche Vereinbarungen schaffen aber nur dann Vertrauen, wenn die Verständigung echt ist, wenn kein fauler Kompromiss kaschiert wird und wenn alle sich an das halten, was sie gemeinsam verabredet haben. Wenn die Verfallszeit von Verabredungen aber kürzer ist als die eines Bechers Joghurt, dann schürt das den Eindruck, dass die politisch Verantwortlichen sich letztlich nicht verständigen wollen oder können.“ (Rau hatte wohl schon die spätere Ampelregierung und die schwarz-rote Regierung Merz vor Augen?)

Johannes Rau erkannte auch die berechtigten Zweifel an politischer Kompetenz: „Besonders schädlich ist es, wenn sich immer mehr das Gefühl breit macht: "Die da oben können es nicht - und zwar auf allen Ebenen und auf allen Seiten." Ein Umfrageergebnis ist in der Nachkriegsgeschichte übrigens absolut neu: Noch nie hatten so wenig Menschen in Deutschland Vertrauen in die Politik einer Regierung - und noch nie haben gleichzeitig so wenige geglaubt, die Opposition könne es besser“. Damit gerät die Sinnhaftigkeit des notwendigen politischen Wechsels in einer Demokratie in Frage.

Aufkommende Zweifel an der Gestaltungsfähigkeit des Gemeinwesens

Das innere Ausbluten der Demokratie bereitete Johannes Rau Sorgen: „Das ist der Ausdruck einer tiefgreifenden Vertrauenskrise. Von Ausnahmen abgesehen, geht die Beteiligung bei Wahlen bedenklich zurück. Auch langjährige Mitglieder wenden sich von den Parteien ab. In manchen Gegenden fehlen schon Kandidaten für die Wahlen in den Städten und Gemeinden. Darin drückt sich für mich das gefährlichste und verhängnisvollste Misstrauen aus: Das fehlende Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten, etwas verändern und etwas gestalten zu können. Das trifft nicht nur die eine oder die andere Partei, das richtet sich gegen unser Gemeinwesen als Ganzes. Hier droht eine innere Auswanderung aus unserer Demokratie, die wir nicht tatenlos hinnehmen dürfen“.

Und weiter: „Noch erleben wir keine wirklich bedrohlichen Äußerungen von Enttäuschung und Wut. Wir müssen aber einen stillen Abschied und privaten Zynismus beobachten, resigniertes Schulterzucken von Menschen, die von der Politik nichts mehr erwarten. Das geht oft einher mit fehlendem Vertrauen in die eigene Zukunft. Es ist höchste Zeit, etwas dafür zu tun, dass wir die Vertrauenskrise überwinden, in die unsere Gesellschaft geraten ist. Wir müssen die Grundlagen des Vertrauens wiedergewinnen. Schönreden hilft da nicht. Wir werden uns anstrengen müssen“.

Das Primat der gestaltenden Politik muss wieder gelten statt Wirtschaftsinteressen

Mit klaren Forderungen benannte Johannes Rau die Erfordernisse: „Die Politik muss die Initiative wiedergewinnen gegenüber wirtschaftlichen und anderen Einzelinteressen. Die politische Gestaltung muss zurück in die Parlamente. Die Abgeordneten müssen mit ihrer Stimme die Richtung bestimmen und nicht bloß Beschlüsse von Kommissionen und Konsensrunden verabschieden. Dazu brauchen wir zunächst einmal eine verständliche politische Sprache. Oft hören wir ja ein seltsames Gemisch aus Abkürzungen und Neubildungen, aus halb verdeutschtem Englisch oder aus absichtlicher Schwammigkeit, aus Verharmlosung und Fachchinesisch“.

Die Beteiligung der Menschen war Johannes Rau das allerwichtigste demokratische Element: „Wir hören oft, man müsse die Menschen "mitnehmen", zum Beispiel auf den Weg der Reformen. Das ist gewiss richtig. Orientierung und Führung sind notwendig. Genauso notwendig ist es aber, auf die Menschen zu hören. Deshalb müssen wir uns neue Gedanken darüber machen, wie sich die Menschen besser und stärker an den Entscheidungen beteiligen können. Wir brauchen neue Ideen und Möglichkeiten für Mitgestaltung und Partizipation in unserer Gesellschaft. Wir müssen politische Willensbildung unter den heutigen Bedingungen besser organisieren.“

Konkrete Reformvorschläge zur Rettung unserer Demokratie

Die beiden zuletzt zitierten Sätze des volksnahen Ex-Bundespräsidenten sind eine klare Aufforderung, in dieser Richtung demokratische Erneuerungen unserer (aus den beiden vorigen Jahrhunderten stammenden) Parteiendemokratie zeitgemäß anzustoßen, etwa mit folgenden Vorschlägen für die Reformdiskussion, denn unser parlamentarisches System ist in keiner guten Verfassung:

REFORMVORSCHLÄGE:

Parlamentsreform:

  • Die Zusammensetzung und Sitzverteilung der Parlamente (Bundestag, Landtage, Kommunalparlamente) sollte künftig wie folgt geändert werden: Nur die Hälfte der Sitze geht wie bisher an die gewählten Parteikandidaten gemäß ihrem Wahlergebnis. Die andere Hälfte geht per Losverfahren an die Bürgerinnen und Bürger (mit zeitlicher Begrenzung für eine Sitzung/Sitzungsperiode oder Dekade, (danach Rotation). Die Auswahlkriterien des Losverfahrens für das „gemischte Parlament“ sollen einen möglichst repräsentativen Querschnitt gewährleisten (nach Altersgruppen Geschlecht, Herkunft, Bildungsstand Berufsgruppen, sozialen Schichten). >>> Eine Alternative als Kompromiss wäre eine gesonderte (partei-unabhängige) separate „Bürgerkammer“ neben dem eigentlichen Parlament, deren Kompetenzen und Arbeitsweise eigener Überlegungen bedarf.
  • Die Parteivertreter in den „gemischten Parlamenten“ haben somit in jedweder Konstellation zusammen keine parlamentarische Mehrheit (auch nicht bei etwaigen „Koalitionsabsprachen“), sondern müssen in lebendigen parlamentarischen Debatten den ausgelosten Bürgerblock (oder die „Bürgerkammer“) jeweils argumentativ mit überzeugen, um bei Abstimmungen Mehrheiten für ihre Beschlussvorlagen etc. zu erhalten. (Anzustreben sind obligatorische „Sternstunden des Parlamentes“ mit gepflegter Debattenkultur).
  • Dazu wird der Anwesenheitszwang aller Abgeordneten im Plenum stets verpflichtend (statt wie bisher meist nur der Fraktions-Delegationen aus den Fachausschüssen vor ansonsten leeren Stühlen). Durch Auszahlung oder Kürzung von Sitzungsgeldern (nach dem Vorbild des EU-Parlaments) wird die Anwesenheit sichergestellt. (Oder wie bei den Bürgergeldempfängern/Grundsicherungsbeziehern könnte nach 3-maligen unentschuldigten Fehlen die Abgeordnetenvergütung komplett einbehalten werden). Das Frage- und Rederecht der gelosten Bürgervertreter wird in der Geschäftsordnung geregelt.
  • Damit werden bisher übliche „Regierungskoalitionen“ als Mehrheitsbündnisse verschiedener Parteifraktionen für die gesamte Wahlperiode (mit Fraktionszwängen etc. zur politischen Unterstützung der Exekutive) hinfällig, sondern die Entscheidungsgewalt geht an die einzelnen Abgeordneten und Bürgervertreter in die dafür vorgesehenen Parlamente zurück, wo von den Abgeordneten nach eigener Überzeugung und Gewissensfreiheit und nach den wechselnden Mehrheitsverhältnissen ausschließlich in der Sache entschieden wird.
  • Die überwiegende Zahl der Gesetzesinitiativen und -entwürfe sollte zudem aus dem gesetzgebenden Parlament und nicht mehr nur vorwiegend von der exekutiven Regierung mit ihren Ministerien kommen, die mehr als ausführendes Organ fungiert. Denn alle Gewalt geht vom Volke aus und die politische Richtlinienkompetenz des Kanzlers/der Kanzlerin bezieht sich auf das Binnenverhältnis im Kabinett. Einen präsidialen Kanzler mit vielen Vollmachten (nach dem Präsidialprinzip anderer Länder wie Frankreich oder USA) sieht unsere Verfassung sinnvollerweise nicht vor.
  • Die Abgeordneten und die gelosten Bürgervertreter erhalten eine jeweils angemessene Aufwandsentschädigung. Anstelle der bisherigen Diäten für die gewählten Angeordneten der Parteien wird für die Dauer des Mandates (nach dem Vorbild der Betriebs- und Personalräte) eine Lohnfortzahlung im vorher ausgeübten Beruf gewährt sowie die Einzahlung in die gesetzliche Rentenkasse geregelt. (Damit entfällt die bisherige Festlegung der Abgeordnetenvergütung und -versorgung durch die betroffenen Abgeordneten selber in eigener Sache). Die gelosten Bürgervertreter erhalten für die Sitzungstage und Ausfallzeiten ebenfalls eine Lohnersatzzahlung neben der Aufwandsentschädigung und sind im erforderlichen Umfang beruflich freizustellen.
  • Den gewählten Abgeordneten der Parteien sind während ihrer Mandatszeit bezahlte Nebentätigkeiten sowie Lobbyfunktionen untersagt, auch sind sämtliche Lobbykontakte offenzulegen. Sie haben (ebenso wie die Regierungsmitglieder) überdies offenzulegen, welche Beteiligungen sie an Unternehmen etc. haben, welche Aktien (insbesondere von Rüstungsunternehmen, Immobilienunternehmen etc.) sie besitzen und inwieweit sie etwa über Immobilienfonds oder Immobiliengeschäften und -vermögen von Mietpreissteigerungen und Bodenwertzuwachs profitieren, um bei Befangenheit von parlamentarischen Beratungen und Beschlüssen insoweit ausgeschlossen zu werden. Die Abgeordneten haben sich (ebenso wie die Regierungsmitglieder) allen Anti-Korruptionsregeln verbindlich zu unterwerfen mit wirksamen Straftatbeständen sowie einen Verhaltenskodex aufzuerlegen (siehe auch Verlinkung zu den „10 Geboten für Abgeordnete“: https://www.lokalkompass.de/essen/c-politik/zehn-gebote-fuer-abgeordnete-und-berufspolitiker_a1921123
  • Die Ausübung eines Abgeordneten-Mandates sollte auf maximal zwei- bis drei Wahlperioden begrenzt werden als „Mandat auf Zeit“, um der demokratisch abträglichen Tendenz zum unsäglichen „Berufspolitikertum“ zu begegnen. (Die „Volksvertreter“ sollten als Delegierte aus dem Volk sich anschließend wieder „zurück ins Volk“ und ins alltägliche Berufsleben begeben, um Bodenhaftung zu behalten). Die Aufnahme einer Verbands- oder Lobbytätigkeit nach Ausscheiden aus dem Parlament sollte generell untersagt werden, um keine daraus hergeleiteten Vergünstigungen, Gefälligkeiten oder Abhängigkeiten entstehen zu lassen.
  • Die Trennung von Amt und Mandat sollte im Sinne der Gewaltenteilung unbedingt erfolgen, das heißt, ein Abgeordneter kann nicht zugleich Regierungsmitglied sein und umgekehrt, weil die Legislative die Exekutive auch zu kontrollieren und zu beauftragen hat. Ein Minister oder Kanzler als Abgeordneter kann sich nicht selber in seiner Doppelrolle kontrollieren oder Aufträge erteilen. Sowohl bei Regierungsverantwortlichen wie bei Abgeordneten sollten überdies die Haftungsregelungen bei kostspieligen und fahrlässigen Fehlentscheidungen verschärft werden in Anlehnung an das Beamtenrecht).
  • Ebenso sollte dem Bundestag und der Bundesregierung die politische Kompetenz zur Ernennung der höchsten Richter für die Judikative entzogen werden, die nicht nach Parteienproporz oder -präferenz oder als Resultat von Koalitionsstreitigkeiten ausgewählt werden sollten, sondern durch einen parteipolitisch unabhängigen Richterwahlausschuss von angesehenen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und des Rechtslebens. Auch der Einfluss der Parteien hinter den Kulissen auf die Auswahl von Schöffen oder ehrenamtlichen Richtern sollte unterbunden werden.
  • Auch sollten die Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten oder Medienkommissionen nicht mehr von und mit Parteipolitikern nach Parteienproporz mit besetzt werden, sondern ausschließlich durch die Gebührenzahler und Zuhörer/Zuschauer sowie durch Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Bereichen des öffentlichen Lebens, der Kultur und der Gesellschaft. Zugleich sollte darauf hingewirkt werden, dass in der Medienlandschaft nicht die Dominanz der privatwirtschaftlichen Medienkonzerne und -angebote die öffentliche Innformationspolitik und Meinungsbildung beherrscht, sondern vielmehr gemeinwohlorientierte oder genossenschaftliche Medien- und Zeitungsprojekte mit Qualitätsjournalismus stärker zum Zuge kommen und gesichert werden.

Wahlkreisreform und Kandidatenaufstellung:

  • Die Abgeordneten der Wahlkreise werden verbindlich verpflichtet, halbjährlich eine öffentliche Wahlkreisversammlung (parteiunabhängig) einzuberufen, in der sie der Bürgerschaft und Wählerschaft im Wahlkreis über ihre Tätigkeiten und ihr Abstimmungsverhalten berichten und Rechenschaft ablegen. Zugleich sollen sie dort Anliegen und Forderungen aus der Bürgerschaft aufnehmen sowie deren Meinungen über aktuell anstehende Beratungsthemen abfragen und einbeziehen und somit in einen regelmäßigen Austausch kommen.
  • An der Vorauswahl der Kandidatinnen und Kandidaten werden die wahlberechtigten Bewohner des Wahlkreises beteiligt, indem die Parteien vor ihrer endgültigen internen Personalentscheidung zunächst eine Liste der in Frage kommenden Bewerber auf einer Wahlkreisversammlung präsentieren und die jeweiligen Kandidaten und Kandidaten vorstellen, um nach Personaldiskussion ein Votum der Versammlung einzuholen. Hierbei wird ein einheitliches Anforderungsprofil für alle Bewerber um ein Parlamentsmandat entwickelt und zugrunde gelegt, weil bloße Ambitionen von Personen nicht ausreichen, sondern Mindestanforderungen nach zu entwickelnden Auswahlkriterien zu erfüllen sind. Zugleich haben die Parteien bei ihren Kandidatenvorschlägen und Auswahlkriterien auf Repräsentativität zu achten, unter Berücksichtigung der Geschlechtergerechtigkeit und der soziologischen Bevölkerungsstrukturen im jeweiligen Wahlkreis.
  • Inwieweit das zuvor genannte Modell der „gemischten Parlamente“ mit gelosten Bürgervertretern und reduzierter Abgeordnetenzahl aus den Parteien eine Reform des Wahlrechtes und der Wahlkreise (sowie des Verhältnisses zwischen Direktmandaten und Listenplätzen) erfordert, ist abzuklären. Auch wäre zu erwägen, in Anbetracht der sinkenden Wahlbeteiligungen eine Wahlpflicht einzuführen oder besser Anreize zur Wahlbeteiligung zu setzen (z.B. im Wahlmonat einmaliger Steuernachlass für Wähler, der Nichtwählern vorenthalten wird). Ebenfalls könnte bei niedriger Wahlbeteiligung im Wahlkreis eine Bonus-/Malus-Regelung für Abgeordnete je nach Wahlerfolg (Wahlbeteiligung) eingeführt werden bei ihrer Abgeordneten-Vergütung, als Anreiz zur Wählermobilisierung. Bei Wahlbeteiligung nur unter 50% im Wahlkreis entfällt der Anspruch der Wähler auf einen Vertreter/einer Vertreterin aus ihrem Wahlkreis im Parlament, als Anreiz, beim nächsten Mal wieder wählen zu gehen, um politisch vertreten zu sein.

Partizipation / Bürgerbeteiligung:

  • Die seit Jahren erfolgreich durchgeführte Beteiligungsmodelle der beratenden „Bürgerräte“ auf kommunaler und regionaler Ebene sowie in Land und Bund und auch in anderen Ländern sollte unbedingt fortgeführt und verstärkt sowie verstetigt werden. Auch sollte erwogen werden, nach dem erprobten Modell des „Bürgerhaushaltes“ den Bürgerinnen und Bürgern ein Beratungs- und Mitsprachrecht bei der Verteilung und Verwendung von öffentlichen Haushaltsmitteln und Steueraufkommen einzuräumen sowie eigene Budgets für zivilgesellschaftliche Projekte und Vorhaben demokratisch verwalten zu lassen.
  • Als zu stärkende Elemente der „direkten Demokratie“ sind die in den Landesverfassungen eingeräumten Möglichkeiten der „Volksbegehren“ und Volksentscheide“ (Plebiszite/Referenden) oder der „Bürgerbegehren“ auf kommunaler Ebene auch auf der Bundesebene per Verfassungsänderung zu ermöglichen, (die es dort bisher nur bei der Neugliederung von Bundesländern gibt). Für diese berechtigten Forderungen nach mehr direkter Demokratie hatte sich auch der damalige Bundespräsident Horst Köhler in 2005 ausgesprochen zur Identifikation der Bürger mit ihrem Gemeinwesen.
  • Auch die Direktwahl des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers/der Bundeskanzlerin durch die Bevölkerung sollte erwogen werden. Die vorgeschlagene Einbeziehung der Wahlberechtigten bei der Kandidatenaufstellung der Parteien ist bereits an anderer Stelle angesprochen.

Parteienfinanzierung:

  • Die Parteienfinanzierung über Parteispenden aus der Wirtschaft und von Lobbyverbänden (einschl. Rüstungsindustrie, Versicherungs- und Finanzwirtschaft und Immobilienwirtschaft) sollte komplett beendet und untersagt werden. (Das Nachbarland Frankreich beispielsweise verbietet Unternehmensspenden.)

Regierungsreform:

  • Nach Vorbild des Schweizer Regierungsmodells sollte die Bundesregierung (und anlog die Landesregierungen) künftig als Kollegialorgan möglichst von Experten aus den jeweils am stärksten aufgestellten Parlamentsparteien (interfraktionell) benannt und vom Parlament (zeitlich versetzt für jeweils 4 Jahre) gewählt werden. Damit findet unabhängig von Wahlterminen und -perioden einerseits eine Rotation auf den Ministerposten statt und gewährleistet andererseits gewisse Kontinuität unabhängig von Wahlkampfzeiten. Auch die Wahlzeit des Kanzlers/der Kanzlerin sollte auf nur einmalige Wiederwahl, also 2 Wahlperioden beschränkt werden (nach dem Vorbild der Präsidentenwahlen in anderen Ländern), um Machtverfestigungen zu vermeiden.
  • Die Kanzlerwahl sollte, anders als beim Ministerkollegium, durch das Volk statt durch das Parlament erfolgen, es sei denn, auch das Amt des Kanzlers unterliegt dem zu empfehlenden Kollegial- und Rotationsprinzip, d.h. alle 2 Jahre beispielsweise wechselt der (stressige) Kabinettsvorsitz im Regierungskollegium untereinander. Damit entstünde ein völlig anderes und zugleich konstruktives Regierungsverständnis, dass nicht allzu sehr von Koalitions- und Parteistreitigkeiten ideologisch gesteuert ist, sondern als ausführendes, aber fachkundiges Exekutivorgan dem Parlament als gesetzgebende Gewalt das zustehende Primat einräumt.

Föderalismusreform:

  • Bevor Einzelheiten einer Föderalismusreform (mit Neuregelung der Zuständigkeiten mitsamt Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern sowie Konnexitätsprinzip) in Angriff genommen werden, sollten Parlament und Regierung eine generelle Neusortierung des Zuständigkeits- und Aufgabenspektrums mit Unterteilung von öffentlichen und gemeinwohlorientierten Aufgaben einerseits und privaten bzw. privatwirtschaftlichen Aufgaben anderseits vornehmen. Als Kriterium der Zuordnung sollten die Maßstäbe der Allgemeinen Menschenrechte und des Grundgesetzes sowie der Länderverfassungen zugrunde gelegt werden, d.h. die Aufgaben der Wohnungs- und Energieversorgung, der Wasserversorgung, der Mobilität, der Gesundheit, der Bildung und sozialen Sicherung, der kulturellen Teilhabe etc. gehören (wie zu Beginn der Bundesrepublik vor der Kommerzialisierungs- und Privatisierungswelle) in die öffentliche Hand oder zu gemeinnützigen und gemeinwohlorientierten Trägern, um die Einhaltung der Menschenrechte zu gewährleisten.
  • Der Flickenteppich der 16 historisch gewachsenen Bundesländer unterschiedlicher Größenordnung mit großen Flächenstaaten, Stadtstaaten und kleinen Ländern völlig unterschiedlicher Einwohnerzahl sollte durch Neuordnung bereinigt werden, um einerseits die Gleichbehandlung der Bewohner zu gewährleisten und andererseits die Kosten und demokratische Effizienz in Ausgleich zu bringen mit beispielsweise 5 Landesregierungen und 5 Landesparlamenten. Denkbar wäre also die räumliche Gliederung in 5 (etwa gleich große und leistungsstarke) Bundesländer mit vergleichbarer Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft: Nord (mit Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Bremen), West (mit NRW, Rheinland-Pfalz und Saarbrücken), Ost (mit Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Berlin), Süd (mit Bayern und Baden-Württemberg) sowie Mitte ( Hessen, Thüringen, evtl. Teile von Ostwestfalen/Lipper Land und Südniedersachsen/Oldenburger Land). Die Strukturdaten dieses neuen Gebildes lassen sich vergleichend aufarbeiten.

Einer Reformkommission aus Bund, Ländern und Kommunen sowie mit intensiver Experten- und Bürgerbeteiligung zur umfassenden Demokratie-Reform in Deutschland böte sich hiermit ein herausforderndes Aufgabenfeld im Neuen Jahr, wenn in 2026 die aufrüttelnden Wahlergebnisse der 5 Landtagswahlen (in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Berlin, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern vorliegen und zum Demokratie-Update geradezu auffordern. Dazu diese Denkanstöße.

Wilhelm Neurohr, 20. Dezember 2025