Wilhelm Neurohr

Der Fall des Günter Grass hat die Öffentlichkeit auf Brüche und Widersprüche in der Biografie eines Menschen hingewiesen, die zu unterschiedlichen Entwicklungen und Verhaltensweisen führen können - bis hin zur radikalen Veränderung des Lebens. Dafür steht der politisch engagierte 80jährige Schriftsteller, Publizist, Buddhist und Pazifist Dietrich Stahlbaum aus Recklinghausen. Als Zeitzeuge der Kriegsgeneration des Günter Grass war er als Jugendlicher in Ostpreußen selber zu militärischer Disziplin mit nationalsozialistischen „Idealen“ erzogen worden und hat nach dem Krieg als Söldner für die französische Fremdenlegion am Vietnamkrieg teilgenommen, aus dem er als Pazifist und spiritueller Mensch heimgekehrt ist. Für seinen prominenten Schriftstellerkollegen Günter Grass zeigt er Verständnis: „Man muss verstehen, um zu verändern“. Wilhelm Neurohr portraitierte Dietrich Stahlbaum, mit dem ihn in Recklinghausen seit Jahren das gemeinsame soziale Engagement verbindet.

Der 1926 geborene Dietrich Stahlbaum ist in seiner bürgerlichen Familie in Ostpreußen und als Hitlerjunge deutschnational und militaristisch erzogen worden. Er war in den letzten Kriegsmonaten des 2. Weltkrieges 1944-1945 als junger Soldat an zerbröckelnden Fronten in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland eingesetzt. Nach dem Krieg kehrte er aus persönlichen und politischen Gründen Deutschland den Rücken, da er sich in dem Land nicht mehr zurecht fand. Als Kriegsheimkehrer fand er wenig Verständnis für seine bohrenden Fragen nach den unaussprechlichen Gräueln des nationalsozialistischen Deutschland. Er musste überdies erkennen, dass die meisten Mitglieder seiner Familie das NS-System als aktive Funktionäre mitgetragen hatten. Es gab niemanden, mit dem er darüber hätte reden können.

Als Legionär im Vietnam-Krieg

Der 23-jährige Dietrich Stahlbaum beschloss, Deutschland zu verlassen. Rastlos und von Abenteuern getrieben, meldete er sich im September 1949 als Söldner bei der französischen Fremdenlegion (mit der verlockenden Aussicht auf französische Staatsangehörigkeit und ein Studium), bestieg ein Schiff Richtung Algerien und wurde im afrikanischen Stützpunkt für den Einsatz in Vietnam ausgebildet. Dort wurde er 1951 dann hingeschickt. Die Unsinnigkeit dieses Krieges hatte er schon alsbald erkannt, aber Land und Leute lernte er zu schätzen. In seiner Feizeit stieg er auf ein Motorrad und streifte durch die Umgebung Hanois – kein ungefährliches Unterfangen. Immer wieder kam es vor, dass ausländische Soldaten verschwanden oder mit durchgeschnittener Kehle gefunden wurden. Dem freundlichen Fremden aber begegneten die Vietnamesen mit der ihnen eigenen Freundlichkeit und ließen sich von ihm fotografieren.

Vom Krieg und seiner Menschenverachtung hatte Dietrich Stahlbaum längst genug; doch desertieren kam für ihn nicht in Frage. Sein Vertrag band ihn bis September 1954 an die französische Armee. „Gottseidank kam ich nicht in die Situation, auf Menschen schießen zu müssen.“ Nach der größten Luftlandeoperation im November 1953 gelang es den Vietkong, die französischen Truppen einzukesseln und die für den Nachschub wichtige Start- und Landebahn zu zerstören. Als die entscheidende Schlacht in Dien Bien Phu stattfand, war Dietrich Stahlbaum bereits in sicherer Entfernung im Fronturlaub an der afrikanischen Küste. Nach seiner Entlassung kehrte er zurück nach Deutschland.

Berufliche und gesellschaftliche Neuorientierung

Zurück in Deutschland wurde er mit Vorurteilen gegenüber einem Ex-Legionär konfrontiert und konnte nur mit Mühe in einer Reihe von Berufen Fuß fassen. Unter anderem betätigte er sich als Fabrikarbeiter, Buchhändler, Verlagsangestellter und Bibliothekar. Nach vielen Stationen kam er ins Ruhrgebiet nach Recklinghausen, wo er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1990 Mitarbeiter der Stadtbücherei war. Er engagierte sich in der Friedensbewegung und politisch für die Grünen, für die er auch in den Rat der Stadt Recklinghausen gewählt wurde. In den letzten Jahren engagierte er sich in der Zivilgesellschaft, in Friedensinitiativen, beim globalisierungskritischen Netzwerk von attac, im regionalen Sozialforum und für eine alternative Wählerinitiative sowie für die neue Linkspartei.

Die literarische und philosophische Betätigung als Zeitkritiker

Dietrich Stahlbaum entfaltete in all den Jahren ein beachtliches kulturelles und literarisches Wirken und Schaffen und befasste sich mit Philosophie und Literatur. Er veröffentlichte einen Roman und zeitkritische Gedichte, Kurzgeschichten und Reportagen sowie ein Lesebuch („Der kleine Mann – Geschichten, Satiren, Reportagen aus sechs Jahrzehnten“) und war für den „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ aktiv. Außer Prosa, Lyrik und Essyas sowie Reportagen galt sein Interesse und künstlerisches Schaffen auch der sozialdokumentarischen Fotografie.

Im Internet richtete er ein „Zeitfragenforum“ ein, in dem auf hohem Niveau ein breites Spektrum brennender Gegenwarts- und Zukunftsfragen ebenso wie philosophische und spirituelle Fragen vertieft behandelt werden, um dass Zeitgeschehen nicht fatalistisch über sich ergehen zu lassen.. Themen wie beispielsweise individuelle und kollektive Gewalt oder Ökologie und die Welt als Ganzes (Dualismus und Ganzheitlichkeit) sind dort ebenso vertreten wie Fragen der Globalisierung und einer lokal wie global sozialen Politik, der Arbeitslosigkeit und des Arbeitsbegriffes, der neuen Frauenbewegung, des Gesundheitswesens und der gesunden Ernährung und natürlich Fragen von Krieg und Frieden sowie von Religion und Spiritualität, Buddhismus, Ethik, Geist und Macht sowie Materie.

Autobiografischer Roman mit buddhistischer Weisheit

In den 90-er Jahre begann er die Arbeiten für seinen autobiografischen Roman, der im Jahre 2000 im Aachener Karin-Fischer-Verlag erschien: „Der Ritt auf dem Ochsen oder: Auch Moskitos töten wir nicht“. Es ist ein 360-seitiger Roman über Gewalt, Krieg und buddhistischen Pazifismus. „Ein leises Buch, eindringlich, prägnant, unsentimental,“ heißt es in einer Buchrezension der Recklinghäuser Zeitung. Und die Westdeutsche Allgemeine Zeitung schreibt: „Hinter dem Buchtitel steht buddhistische Weisheit: Der Ritt auf dem Ochsen – das ist der Kampf mit dem Ego. Auch Moskitos töten wir nicht – das ist der Respekt vor aller Kreatur.“ Es ist letztlich ein pazifistischer Entwicklungsroman, der das wesentliche buddhistischer Lehre und Kultur aus der Sicht eines vermeintlich aufgeklärten Europäers und auf ihre Aktualität hinweisen soll.

Der 80-jährige, immer noch geistig rüstige, politische engagierte und literarisch produktive Dietrich Stahlbaum hat in seinem autobiografischen Roman und in seinem übrigen Lebenswerk und -engagement zum Ausdruck gebracht, dass er seine militärisch geprägte Jugend nicht nur verarbeitet hat, sondern dass er aus seiner erlebnisreichen und widersprüchlichen Biografie mit ihren Brüchen seine spirituellen und sozialen Entwicklungsimpulse ergriffen hat und die Mitwelt teilhaben lässt an diesem beeindruckenden Lebensweg. Wer Dietrich Stahlbaum begegnet, erlebt einen vom Schicksal geprägten, weisheitsvollen und in sich ruhenden Menschen von allergrößter Gedankenklarheit, der mit fast jugendlicher Kraft und Intensität das Zeitgeschehen kritisch verfolgt, zu durchdringen versucht und engagiert begleitet, bis hin zum öffentlichen und gesellschaftspolitischem Engagement.

Verständnis für die Verführungen des jugendlichen Günter Grass

Vor diesem eigenen biografischen Hintergrund und der Lebenswandlung ist auch sein weisheitsvolles Verständnis für die jugendlichen Verführungen der Kriegsgeneration des Günter Grass zu verstehen, der geahnt haben muss, welche Lawine er mit seinem späten Bekenntnis lostritt. Auch Günter Grass habe seine Lehren aus der Biografie gezogen mit der Beteiligung an Demonstrationen und Straßenblockaden in Mutlangen am US-Camp oder gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen, zusammen mit Heinrich Böll, Oskar Lafontaine, Walter Jens und Petra Kelly. Mit derselben Selbstgerechtigkeit, die man ihm vorwirft, falle man nun über ihn her, der kurz vor Kriegsende als Siebzehnjähriger zu einem eilig zusammengetrommelten Haufen versprengter Wehrmachtssoldaten einbezogen und in eine SS-Uniform gesteckt wurde, um an der der zerbröckelnden Ostfront „verheizt“ werden zu sollen, meint Dietrich Stahlbaum.

Er bedauert, dass die wesentlichen Fragen geflissentlich übergangen werden, die sich Grass und seiner Kriegsgeneration stellen – Fragen, die Dietrich Stahlbaum selber betreffen und die er für sich beantwortet: Warum sind besonders junge Menschen in totalitären Systemen leicht verführbar und woher kommt die Begeisterung für alles Militärische? Die Kaiserzeit mit militaristischer und ideologischer Erziehung hat die jungen Männer damals derart geprägt, dass sie in der Weimarer Republik Pazifismus und Demokratie nicht verinnerlichen konnten. Dietrich Stahlbaums Vater selber war 1920 am Kapp-Phutsch beteiligt und schwenkte die Hitler-Fahne, so dass er seinen Sohn in preußischem Geist deutsch-nationalistisch erzog.

Die Frage nach der Mitverantwortung und den biografischen Konsequenzen

Autoritärer Geist, patriarchalische Vorbilder, pubertäre Kriegsspiele und kriegerischer Manneskult mit Faszination für die Kriegstechnik bei den Militärparaden ergriffen die Jungen ebenso wie der pseudoreligiöse Heldenkult: Junge, hoch dekorierte Offiziere wurden in die Schulen geschickt, um als Vorbilder und mit ihren Orden zu imponieren und den Heldentod zu glorifizieren (ähnlich wie bei den Selbstmordattentätern im fundamentalistischen Islam). Die Soldatenlaufbahn wurde den Schülern als Tor zur Karriere dargestellt: „Der Marshallplan im Tornister“. Das Herrschaftsprinzip mit Befehl und Gehorsam, mit Gehorchen und Kommandieren lockt auch heute noch junge Männer in die Armeen und es fallen Schüler bei Experimenten (siehe z. B. die Milgram-Experimente oder „Die Welle“) in der Schule immer wieder darauf herein: Die Gehorsams- und Gewaltbereitschaft sowie die moralischen Schranken sind erschreckend niedrig.

Diese Erkenntnisse sollten in eine aktive Friedenspädagogik einbezogen werden. Die Fragen nach den Ursachen solcher Katastrophen und nach unserer Mitverantwortung, also die Fragen nach den Konsequenzen, die wir persönlich daraus ziehen, das sind die biografischen Kernfragen, um solche Umwege zu vermeiden, wie ihn Dietrich Stahlbaum oder der zögerliche Günter Grass gegangen sind, um sich leidgeprüft zu handelnden und schreibenden Kämpfern für Frieden und Menschlichkeit zu wandeln.