Wilhelm Neurohr

In seinem Kommentar auf der Politikseite der Recklinghäuser Zeitung vom 4. September beklagt Karl Feldmeyer zutreffend, dass im nicht repräsentativen Bundestag die Ansichten der Wählermehrheiten nicht mehr vertreten werden.

Wer zuvor das Sommerinterview des ARD-Fernsehens mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel gehört und gesehen hat, aus dem auch die Zeitungen vielfach zitierten, kann sich über das abhanden gekommene Demokratieverständnis in unserem Parteienstaat nicht mehr wundern, sondern nur noch empören. Denn auf die Frage des Fernsehjournalisten, warum die Kanzlerin gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung für eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke plädiere, gab sie eine erschreckende und entlarvende Antwort: Wenn „ihre“ Regierungspolitik stets auf Mehrheiten Rücksicht nehmen würde, dann gäbe es auch keine Rente mit 67 und vieles andere.

Mit anderen Worten: Unsere laut Grundgesetz auf Mehrheiten basierende parlamentarische Demokratie hat in strittigen Fragen auf den Mehrheitswillen des Volkes als Souverän keine Rücksicht zu nehmen, so Originalton Merkel. Demnach haben unsere Repräsentanten nicht den Willen des Volkes zu vollziehen (bei gleichzeitigem Minderheitenschutz), sondern denjenigen von Interessengruppen oder gar Eigeninteressen? Repräsentativ wäre unser Parlament ohnehin nur dann, wenn Volksvertreter aus der „Unterschicht“ (inklusive 12% Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger) und unteren „Mittelschicht“ entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil die Mehrheit aller Abgeordnetensitze einnehmen würden, statt der akademischen und wirtschaftlich wohlsituierten Oberschicht allein das Feld zu überlassen – denn täglich entscheiden dort lauter Nichtbetroffene über Betroffene.

Schon im Vorjahr erlaubte sich die Kanzlerin in einem Fernsehinterview den peinlichen Schnitzer, dass sie sich selber in ihrer Kanzlerrolle zweimal fälschlich als „Staatsoberhaupt“ bezeichnete. Nach der verfassungsmäßigen Hierarchie der Staatsämter stehen in Wirklichkeit der Bundespräsident und der Bundestagspräsident sowie der Bundesratspräsident über der Kanzlerin. Aber auch der Bundespräsident ist kein Staatsoberhaupt – denn „Oberhäupter“ (ein irreführender Begriff der Journalistenzunft) gehören in die vergangene Zeit des Kirchenstaates, der Feudalherrschaft oder Monarchie.

Heute haben unsere mehrheitlich gewählten politischen Funktionsträger als Volksvertreter eine dienende Funktion für die Staatsbürger, keine „belehrende“ oder „aufklärende“ und schon gar keine „führende“ Funktion – auch wenn von den Medien ständig nach „Führung“ durch die Kanzlerin als „Regierungschefin“ gerufen wird. Denn auch die Zeit der „Führer“ ist hoffentlich vorbei und eine Regierung ist kein Unternehmensvorstand mit einem Chef, „der das Sagen hat“. Das aber fordern die Medien unisono jeden Tag: Die Regierung müsse „ihre“ Politik den uneinsichtigen Bürgerinnen und Bürgern nur besser „erklären“ und „vermitteln“ und sich dann „durchsetzen“, so heißt es andauernd. Welch ein vordemokratisches, beinahe obrigkeitsstaatliches Demokratieverständnis vom unmündigen statt mündigen Bürger!
Zur Klarstellung: Die „Regierung“ ist laut Verfassung nichts anderes als ein Exekutivorgan, das die vom Bundestag beschlossenen Gesetze umzusetzen und für deren Einhaltung zu sorgen hat. Die Kanzlerin hat den Staat also nicht zu repräsentieren oder als „Regierungschefin“ wie ein Unternehmen zu „führen“, sondern der Staat sind wir! Darum kann es auch nicht „weniger Staat“ geben, denn dann gäbe es weniger „Wir“ und wir würden uns selber beschränken und entmündigen.

In einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie „regiert“ sozusagen das gesetzgebende Parlament, die Legislative, per Mehrheitsbeschlüssen als Vertretungsorgan für die Bürgerinnen und Bürger, die zudem laut Grundgesetz auch durch direkte Abstimmungen (zumindest auf Länderebene) unmittelbar mitwirken sollen. Das hat die Kanzlerin nicht verinnerlicht, die sich nach den letzten Wahlergebnissen in Wirklichkeit gar nicht auf echte Mehrheiten berufen kann und deshalb bevorzugt Minderheitenpositionen vertritt. Kritiker der Kanzlerin mit ihrem problematischen Demokratieverständnis zweifeln demnach zu recht an der biografischen Sozialisation von Angela Merkel, die bekanntlich in einem nichtdemokratischen Staat aufgewachsen ist, in dem sie in ihrer Jugend zeitweilig Sekretärin für Propaganda und Agitation in der SED-Jugendorganisation war, was sie gerne verschweigt.

Die Sehnsucht nach der „starken, durchgreifenden Hand“, - von niemandem wird sie mehr erzeugt als durch die Medienschaffenden. Denn das eingangs erwähnte Zitat von Karl Feldmeyer über den mangelnden Mehrheitswillen im Parlament bezog sich leider ausschließlich auf den Rechtspopulisten Sarrazin mit seiner eingeschränkten (vererbten?) Intelligenz, dem das deutsche Parlament laut Kommentator folgen solle, nicht aber auf Atompolitik oder militärische Auslandseinsätze oder unsoziale Sparprogramme der Regierung, auch nicht auf Stuttgarter Bahnhofsgroßprojekte. Dort wird von den gleichen Medien eher die starke Regierungshand gefragt und keine Rücksichtnahme auf die protestierende Bevölkerungsmehrheit. Somit regiert die Regierung Merkel anhaltend gegen die Mehrheit des eigenen Volkes und dessen Gemeinwohlinteressen. Das ist besorgniserregend und stimmt alle Demokraten nachdenklich.